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Das Geheimnis des Groove

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Kapitelübersicht

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Kapitel 1: Warum wir Rhythmuswesen sind

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Sie wollten klingen wie ein Schlagzeuger mit vier Armen und vier Beinen. Niemand im Publikum sollte mehr still sitzen können, alle sollten im Takt wippen, klatschen, tanzen.

Als die legendäre Hippie-Band Grateful Dead Ende der 1960er Jahre in einer pompösen Villa in den Hollywood Hills an ihrer zweiten Platte feilte, übten Mickey Hart und Bill Kreutzmann, die beiden Drummer, tagelang wie besessen. Manchmal legten sie sich gegenseitig die Arme umeinander und spielten über Stunden komplizierteste Rhythmen und Wirbel gemeinsam auf einer Trommel, jeder mit nur einem Stick, der eine links, der andere rechts.

Sie suchten nach dem ultimativen Groove, jenem magischen Zustand, in dem Körper und Geist eins werden mit der Musik und anderen Menschen. „Wenn der Rhythmus stimmt, in Verbindung mit dem Instrument und zwischen dir und den anderen Musikern“, sagt Hart, „dann fühlst du das mit allen Sinnen. Die Vibration schwingt in deinen Armen, dringt in deine Ohren. Dein Verstand ist ruhig und wach. Du bist pure Emotion.“ Kaum jemand hat den ungewöhnlichen Bewusstseinszustand derart eindrücklich auf den Punkt gebracht wie Mickey Hart.
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Damals und noch lange Zeit danach war Groove kein Forschungsgegenstand: zu wenig greifbar, zu abgehoben, zu esoterisch. Inzwischen hat sich das radikal geändert, beschäftigt sich ein wachsender Wissenschaftszweig mit dem Phänomen. Schritt um Schritt entschlüsseln Psychologen, Neurobiologen und Musiktheoretiker die Wirkung perkussiver Musik auf Psyche und Körper. Mediziner und Therapeuten nutzen die Resonanz, die Musik und Bewegung im Menschen erzeugen, zur Behandlung etwa von chronischen Schmerzen oder der Symptome der Parkinson-Erkrankung.

Diese Resonanz reicht tief. Sie gehört gewissermaßen zu unserer Grundausstattung: Bereits sieben Monate alte Babys können, wie kanadische Wissenschaftler herausfanden, verschiedene Taktarten unterscheiden.

Meist erkennen wir erst, wenn unser Körpersystem aus dem Takt gerät, dass wir durch und durch rhythmische Wesen sind. In unserer interaktiven Grafik auf der folgenden Seite werden Körperrhythmen durch Sonifikationen hörbar.


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Oszillation von Kalzium in einer Leberzelle

Komplexe Oszillation von Kalzium in einer Leberzelle

Wachstumshormon eines gesunden Menschen

Wachstumshormon eines Menschen mit Akromegalie (Riesenwuchs durch Hormonüberproduktion)

Gesunder Herzschlag

Regelmäßige Herz-Rhythmus-Störung

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Kapitel 2: Gibt es den Rhythmus, bei dem jeder mit muss?

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Wie stark Menschen auf eine bestimmte Musik reagieren, ist dabei individuell recht unterschiedlich. Und was uns in die Glieder fährt, hängt nicht zuletzt von unseren musikalischen Erfahrungen und Vorlieben ab. Während die eine beim Klang von „An der schönen blauen Donau“ von Johann Strauss unwillkürlich in den Walzerschritt fällt, kann der andere bei Glenn Millers Swing-Hit „In the Mood“ die Füße nicht mehr still halten. Manche Rhythmen, etwa jener des durch Benny Goodman bekannt gewordenen Titels „Sing, sing, sing“, überwinden spielerisch die Kulturgrenzen und begeistern weltweit. Gibt es also ein allgemeingültiges Groove-Prinzip?

Geheimnisse dieser Art versucht der amerikanische Hirnforscher und Musikpsychologe Petr Janata zu lüften. Er erlebte als Keyboarder in einer Folkrockband immer wieder den Groove und wunderte sich darüber, dass er in diesem Zustand über sich hinauswuchs, plötzlich Improvisationen spielen konnte, die er normalerweise als zu schwierig empfand.

„Groove ist wirklich eines der stärksten Erlebnisse, die man mit Musik haben kann, und ich wollte mit wissenschaftlichen Mitteln herausfinden, wie das zustande kommt“, sagt der 50-Jährige mit den wilden, von schwarz nach grau wechselnden Locken.

Als er vor zwölf Jahren sein Groove-Projekt an der Universität von Kalifornien in Davis startete, war er ein Pionier, heute ist er ein Star auf diesem Gebiet. Das Herz seines Labors ist eine schallisolierte Kammer mit etwa neun Quadratmeter Fläche. Schwarzer, samtartiger Stoff an den Wänden schluckt Geräusche, ein Faradaykäfig aus Kupfergeflecht schirmt elektrische Signale von außen ab. Nichts soll die Untersuchungen stören.
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Die wichtigsten Zitate im Text:

"Im Groove fühlen wir uns total miteinander verbunden und erreichen eine neue Ebene im Kontakt mit anderen Menschen. Ein wichtiger Faktor ist dabei der Bewegungsdrang. Es entstehen sehr positive und motivierende Gefühle und man verschmilzt mit der Musik."

"Jeder Ton, den du in diesem Zustand erzeugst, jede Bewegung erscheint mühelos und stimmig. Wenn Du allerdings zuviel darüber nachdenkst, analysierst, fällst Du raus."

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Auf einem Küchenstuhl sitzt ein Student vor Lautsprecherboxen, einem Computermonitor und einer Kamera. Janata und einer seiner Mitarbeiter ziehen dem jungen Mann eine Art blaue Badekappe mit bunten Knöpfen über, mittels derer die Hirnaktivitäten gemessen werden. Füße, Hände und Finger des Probanden bestücken die Forscher mit Bewegungssensoren.

„Gib dich einfach der Musik hin“, fordert Janata den Studenten auf, „und bewege dich spontan dazu, wenn sie dich anspricht.“ Dann schließt er die dicke Stahltür. Beklemmende Stille in der Kammer. Im angrenzenden Kontrollzentrum überwacht Petr Janata den Versuch auf vier Monitoren. „Bist du bereit?“, fragt er über Mikrofon. „Okay. Musik ab.“

Die Folknummer „Spanish Gold“ und David Bowies „Space Oddity“ lösen beim Testhörer nur ein müdes Fußwippen aus. So richtig in Schwung gerät er hingegen bei Parliaments Funkklassiker „Flash Light“.

Nach jedem Stück muss der Proband Antworten notieren: Wie mitreißend hast du den Song empfunden? Entspricht er deinen musikalischen Vorlieben? So erfassen die Forscher die subjektiven Eindrücke. Die objektive Reaktion zeigen die Messinstrumente. „Flash Light“ lässt die Motorikzentren und das Belohnungssystem im Gehirn des Studenten heftig feuern. Er tanzt regelrecht auf seinem Stuhl – soweit die Kabel das zulassen.

Auf einem Monitor vor Janata zappelt er in Form eines Strichmännchens herum. „Ja“, sagt der Forscher lachend, „jetzt ist er im Groove.“
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Kapitel 3: Wie aus Klängen ein Groove wird

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Was ist Groove?

Musiker und Musiktherapeut Reinhard Flatischler erläutert die musikalischen Prinzipien des Groove.

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Afrikanische Musik hat noch einen anderen Dreh: Die Trommler lassen bestimmte Akzente aus oder spielen Schläge überhaupt nicht, obwohl sie im Ablauf des Rhythmus zu erwarten wären. So entstehen Freiräume, in denen die Mitmusizierenden oder Tänzer die Musik nach ihrer persönlichen Fasson vervollkommnen können. Die Auslassungen sind Einladungen, mitzumachen, zu klatschen, zu rufen. Auch Jazz- und Soulmusiker spielen mit diesem animierenden Effekt.

Ein richtiges Tempo trägt ebenfalls dazu bei, dass einen ein Rhythmus packt. Die meisten Menschen bringt eine Folge von rund 120 Schlägen pro Minute auf Touren. Das ist ungefähr die normale Schrittzahl beim Gehen. Wenn Testpersonen spontan einen Rhythmus klopfen sollen, dann wählen sie zumeist dieses Tempo. Komponisten von Tanzmusik nutzen es häufig, weil dadurch, so vermuten Musikpsychologen, besonders leicht ein „innerer Schwingkreis“ im Gehirn in Gang gesetzt wird.

Auf der nachfolgenden Seite sprechen drei Wissenschaftler und drei Musiker über ihr Verständnis von Groove. Die Musiker-Stimmen haben wir im englischen Original belassen.
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Reinhard Kopiez, Professor für Musikpsychologie

Eckart Altenmüller, Professor für Musikphysiologie und Musikermedizin

Ernst Pöppel, Zeitforscher, Professor für Medizinische Psychologie

Ed Thigpen, verstorbener Jazzschlagzeuger

Mickey Hart, Schlagzeuger

Airto Moreira, Perkussionist

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Kapitel 4: Wie der Groove im Kopf entsteht

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Sobald die ersten Töne eines Musikstückes zu hören sind – ob es der Klang der Kuhglocke zu Beginn des Rolling-Stones-Songs „Honky Tonk Women“ ist oder das berühmte Anfangsmotiv aus Ludwig van Beethovens 5. Sinfonie –, beginnen solche Schwingkreise, Hirnforscher sprechen von „neuronalen Oszillatoren“, sich mit dem Puls der Musik zu synchronisieren.

Das Gehirn trifft laufend Vorhersagen, wann der nächste Schlag erfolgen wird. „Es ist befriedigend, wenn der geistige Rhythmus mit dem wirklich gehörten übereinstimmt“, sagt Daniel Levitin, Neurowissenschaftler an der McGill-Universität im kanadischen Montreal und früher selbst Musikproduzent, „und es bereitet Vergnügen, wenn ein guter Musiker diese Erwartung auf eine interessante Weise verletzt – auf diese ‚musikalischen Scherze‘ fahren wir alle ab.“

Ein guter Beat muss vorhersehbar sein und uns dennoch überraschen. Ein völlig exakt gespielter Rhythmus wirkt schnell langweilig, starr, maschinell.

Spielerisch vom exakten Timing abzuweichen, wie es Könner schaffen, kann man allerdings nicht stur trainieren, darin sind sich die meisten Perkussionisten einig. Dafür braucht es viel Erfahrung und Bauchgefühl – etwas, das ein Drum-Computer nicht hat.
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Doch wozu das Ganze?, fragte sich Petr Janata. Wozu nützen uns Musik im Allgemeinen und Groove im Besonderen, außer dass wir uns dabei beschwingt und gut fühlen? Die Antwort liegt, so glaubt der Neurowissenschaftler, in der Synchronisation der Menschen, dem gemeinsamen Erleben von Gleichzeitigkeit – bei der Partnerwerbung ebenso wie bei der Jagd, beim gemeinsamen Mahlen von Mehl und anderen Gruppenaktivitäten. Diese Erfahrung helfe enorm, soziale Bindungen aufzubauen und zu festigen. „Leute sind eher dazu bereit, miteinander zu kooperieren, wenn sie vorher im Gleichklang waren“, sagt Janata. Das Groove-Gefühl sei eine Belohnung für ein evolutionär sinnvolles Verhalten.

Um Menschen zu helfen, dieses Einssein leichter zu erreichen als in einer Band oder einer Trommelgruppe, bastelt Janata gerade an dem Prototyp einer „Groove Enhancement Machine“ – einer Art Groove-Optimierer: Mehrere Teilnehmer sitzen vor Sensorplatten, auf denen sie den von einem Metronom vorgegebenen Takt mit dem Zeigefinger nachklopfen. Ein Computer steuert die Schlagzahl des Metronoms so, dass die Abweichungen von der Synchronizität kleiner werden.

Noch wirkt alles eilig improvisiert, scheint die Maschine direkt aus dem Elektrobaukasten zu kommen. Doch die ersten Auswertungen zeigen: Indem das Gerät dem Takt der Probanden sozusagen entgegenkommt, anstatt auf deren passende Schläge zu warten, können die „Trommler“ sich rascher synchronisieren.
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Die wichtigsten Zitate im Text:

„Die sogenannten Basalganglien, die im Zentrum des Gehirns unter der Großhirnrinde liegen, sind allgemein sehr wichtig für die Bewegungssteuerung, aber auch, um den Rhythmus der Musik zu finden und sich danach zu bewegen.“

„Sobald wir uns im Groove fühlen oder mit anderen Menschen rhythmisch synchronisieren werden gleichzeitig die sozial-emotionalen Hirnareale aktiviert und die Bereiche des Verstands, die unser Verhalten kontrollieren. Entscheidend für das Empfinden des Groove ist die Balance zwischen diesen Hirnarealen.“

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Kapitel 5: Wie Musik dem Körper Kraft verleiht

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Dass das Einschwingen in einen Rhythmus nicht nur das Zusammengehörigkeitsgefühl stärkt, sondern sogar Ausdauer und Leistung steigert, diese Idee kam Thomas Fritz während einer Reise nach Kamerun vor zwölf Jahren. Der Neurobiologe, der am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig die Wirkung von Musik auf das Gehirn studiert, besuchte im abgelegenen Mandaragebirge im Norden des Landes das Volk der Mafa.

Die Mafa praktizieren ungewöhnliche Musikrituale. Sie musizieren mit gebogenen Metallflöten, auf die sie Mundstücke aus Ton setzen. „Diese Instrumente zu spielen ist extrem anstrengend“, sagt Fritz.

Aus einem Koffer holt er eine etwa 30 Zentimeter große Flöte. Mit kurzen, heftigen Atemstößen bringt er darauf ein Stakkato lauter, sirrender Töne hervor. 

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Nach nicht einmal einer Minute ist der Wissenschaftler völlig aus der Puste. „Das machen die Mafa stundenlang. Ich fragte mich, wie schaffen die das, und wie können sie dabei auch noch so gut gelaunt sein.“

Die Frage ließ Thomas Fritz nicht mehr los. Ihm war bewusst, dass musikalische Synchronisation bei extremer Anstrengung helfen kann. Das belegen die rhythmischen Gesänge von Seeleuten beim Segelsetzen, das koordinierte Hämmern von Zimmerleuten beim Aufrichten eines Dachstuhls, das perkussive kollektive Stampfen von Maniokwurzeln während der Essenszubereitung. Dient der Gleichtakt nur dazu, sich von der Anstrengung abzulenken, oder steckt mehr dahinter?


Audio: So klingt das traditionelle Flötenspiel, mit dem sich die westafrikanischen Mafa in Trance versetzen, eigentlich.





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Wie Jymmin die Kraft der Musik nutzt

Um das Phänomen zu untersuchen, verwandelten Tom Fritz und sein Team Fitnessgeräte in Musikinstrumente. Diese Jymmin-Maschinen – der Name leitet sich von Englisch „gym“ für Fitnessstudio und „jamming“ für frei improvisieren ab – produzieren antreibende Rhythmen. Fritz, Techniker Dirk Gummel und Autor Rüdiger Braun bei einem Testlauf.

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Die Stepper, Bauchmuskeltrainer und Kraftstationen sind mit Bewegungssensoren ausgestattet und mit speziell komponierten Klangschleifen verknüpft: von einfachen Schlagzeugsequenzen über Techno-Loops bis hin zu Schlagerschnipseln. „Mit diesen Geräten können auch Nichtmusiker Musik machen“, erklärt der Neurowissenschaftler, „und so in Kombination mit einer intensiven körperlichen Erfahrung musikalische Euphorie erleben.“

Seit acht Jahren lässt Fritz Probanden „jymmen“, und die Ergebnisse sind verblüffend: Die Testpersonen auf den klingenden Maschinen empfanden das Training deutlich weniger anstrengend als jene, die sich an herkömmlichen Geräten ertüchtigten und von Musik nur passiv berieselt wurden. Und die Jymmin-Teilnehmer entwickelten tatsächlich deutlich mehr Kraft und Ausdauer. Ihre Muskeln waren elastischer, verbrauchten weniger Energie und entspannten sich in den Erholungsphasen stärker. Selbst das Immunsystem wurde positiv angeregt, wie Blutuntersuchungen zeigten.

„Das Beste aber ist: Jymmin macht glücklich“, sagt Thomas Fritz lachend. „Es triggert stark die Ausschüttung von Wohlfühlhormonen, zum Beispiel von Endorphinen. Das verbessert nachhaltig die Stimmung, treibt an und führt zu einer Art Hochgefühl, das teilweise Stunden nach der Trainingseinheit noch anhält.“

Einen zusätzlichen Kick können die Teilnehmer erleben, wenn sie die Maschinen in kleinen Gruppen gemeinsam zum Klingen bringen. „Wenn man sich rhythmisch und musikalisch expressiv miteinander koordiniert, entsteht gelegentlich richtig intensiver Groove wie in einer guten Band.“

Aus Sicht des Forschers eröffnen die Ergebnisse neue Therapiemöglichkeiten. So habe ein Versuch mit Patienten, die an chronischen Schmerzen leiden, gezeigt, dass Jymmin nicht nur die Schmerztoleranz erhöhe, sondern auch die Angstwerte senke. Starke positive Effekte erwartet Fritz auch bei Schlaganfall- und Parkinson-Patienten. Denn musikalisches und rhythmisches Training, das haben mehrere Studien belegt, hilft den Betroffenen, Beweglichkeit zurückzugewinnen und wieder sicherer und schneller zu gehen.
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Kapitel 6: Wie Rhythmus Stress und Schmerzen lindert

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In der Fachklinik Heiligenfeld im fränkischen Bad Kissingen gehört Rhythmus schon länger zum therapeutischen Repertoire. Aus dem großen Gruppenraum der psychosomatischen Klinik dringen an diesem Abend ein dumpfer, sonorer Trommeltakt, darüber ein heller metallischer Klang und ein Sprechgesang (Audio) sinnleerer Silben: „Ga-Ma-La-GaMa“.

Im Saal tanzen elf Frauen und acht Männer zwischen 20 und 60 Jahren wie bei einem griechischen Rundtanz in Seitwärtsschritten im Kreis herum. In ihrer Mitte schlägt Frank Rihm, leitender Kreativtherapeut der Klinik, auf einer brasilianischen Surdo-Trommel einen langsamen, gleichmäßigen Rhythmus. Neben ihm spielt der Wiener Musiker und Komponist Reinhard Flatischler auf einem Berimbau, einem einsaitigen Musikbogen, parallel einen etwas schnelleren Takt. Er gibt Anweisungen für Schritte und spricht rhythmische Silben vor:
„Ga-Ma-La-TaKi ...“.

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Frank Rihm

Der leitender Kreativtherapeut der Fachklinik Heiligenfeld in Bad Kissingen, arbeitet seit 20 Jahren mit TaKeTiNa

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Anfänglich decken sich die Silben mit den Schrittmustern, doch allmählich verändert Flatischler die Betonungen und bringt neue Silben ins Spiel. Die ersten Teilnehmer fluchen, geraten ins Stolpern (Audio). Nun sollen sie auch noch einen Rhythmus klatschen, der zwischen den Beinbewegungen liegt. Nach über anderthalb Stunden des Stampfens, Murmelns und Klatschens klappt bei den meisten, was sie zu Beginn kaum für möglich gehalten hätten: Beine, Hände und Stimme führen unterschiedliche Rhythmen aus, die sich in einem Punkt immer wieder überlagern. Die Tänzer geraten in den Groove.

Normalerweise sei es den meisten Menschen unmöglich, willentlich zwei oder mehr unterschiedliche Rhythmen zur gleichen Zeit auszuführen, erklärt Flatischler. „Wenn es jedoch gelingt, mit einem Teil des Körpers in eine unwillkürliche Bewegung zu kommen, dann ist es plötzlich möglich, in einem anderen eine unterschiedliche Bewegung aktiv zu kreieren.“ Dafür müssen „Machen“ und „Geschehenlassen“, Aktivität und Passivität, zusammenwirken.

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Gitte Daum

Sie erzählt von ihren Erfahrungen als Patientin beim Rhythmus-Training in der Fachklinik Heiligenfeld

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Flatischler hat die Rhythmustherapie mit dem exotischen Namen „TaKeTiNa“ selbst entwickelt. An diesem Abend bildet er eine Gruppe von Therapeuten aus. Die vier Silben stehen für ein System vielfältiger Übungen, die elementare Körperrhythmen wie den Puls, den Atem oder das Gehen mit musikalischen Rhythmen verbinden sollen. Der Körper wird dabei durch Tanzen und Klatschen selbst zum Instrument. TaKeTiNa ist eine Synthese aus rhythmischer Meditation, musikalischer Kreativität und Selbsterfahrung.

Flatischler hat dem Rhythmus selber viel zu verdanken. „Er hat mir das Leben gerettet“, sagt der 67-Jährige. Als vielversprechendes junges Klaviertalent lernte er bei dem unkonventionellen Pianovirtuosen Friedrich Gulda. Der Heranwachsende durchlebte große Höhen und Tiefen. Immer wieder plagten ihn heftige Asthmaanfälle, Herzrhythmusstörungen und Panikattacken.

Ein Schlüsselerlebnis war für ihn, als er entdeckte, dass er seinen rasenden Puls durch rhythmische Atem- und Stimmübungen dämpfen konnte. „Von da an war meine Neugier auf alles, was mit Rhythmus zu tun hat, enorm geweckt. Ich wollte so einen Weg finden, meine Leiden loszuwerden.“ Er reiste zwar noch einige Jahre als Klaviersolist durch die Welt, studierte aber vor allem die vielfältigen Schlaginstrumente der verschiedenen Kulturen. Er lernte unter anderem bei führenden Tabla-Lehrern in Indien, spielte beim Karneval in Brasilien in Sambaschulen mit und erkundete klösterliche Trommelriten und schamanisches Trommeln in Korea. Im Jahr 1970 begründete er die TaKeTiNa-Methode. Inzwischen ist Reinhard Flatischler ein Star der internationalen Rhythmusszene.

„Das TaKeTiNa-Konzept weiterzugeben liegt mir am meisten am Herzen“, beteuert der Wiener Musiker. „TaKeTiNa ist für mich einer der lustvollsten, einfachsten und radikalsten Zugänge zum Hier und Jetzt. Befürchtungen, Erwartungen, alles, was stresst, ist plötzlich weg.“ Dadurch entfalte sich, ganz von allein, eine heilsame Wirkung. Flatischler ist sein Asthmaleiden seit Jahrzehnten los.

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Besonders bewährt hat sich TaKeTiNa in den vergangenen Jahren in der Schmerztherapie und bei stressbedingten Erkrankungen wie Depression oder Burnout. Die Therapeuten in der Klinik Heiligenfeld nutzen die Methode auch bei der Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen, bei denen die betroffenen Menschen zur Selbstverletzung und zu unkontrollierten Wutausbrüchen neigen.

Tests verschiedener Ärzteteams belegen indes nicht nur psychische, sondern auch tief gehende physiologische Effekte. Messungen des Stresszustands vor und nach einem dreitägigen TaKeTiNa-Workshop zeigten, dass Probanden ihren Stresslevel im Schnitt um 30 bis 50 Prozent senken konnten und dass die Werte auch Wochen und Monate danach noch niedriger lagen.

Untersuchungen der Hirnwellen belegen den Trance-Effekt und dessen wohltuende Wirkung.
„Wir beobachten annähernd optimale Erholungszustände, in denen sich Körper und Geist besonders gut regenerieren können. So etwas bekommt man mit Medikamenten nicht hin“, berichtet Klaus Laczika, Arzt an der Universitätsklinik Wien. Rhythmustherapeutische Ansätze wie TaKeTiNa hätten ein riesiges Potenzial, das bislang aber noch viel zu wenig genutzt werde.
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Klaus Laczika

Der Musiker und Medizinprofessor an der Uniklinik Wien untersucht die medizinische Wirkung des TaKeTiNa-Trainings

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Dem würde sicherlich auch Mickey Hart zustimmen. Er engagiert sich seit langem im Direktorium des Instituts für Musik und Neurologische Funktion in New York – eine der führenden musiktherapeutischen Einrichtungen in den Vereinigten Staaten. Außerdem arbeitet der 74-jährige eng mit dem Hirnforscher Adam Gazzaley am Neuroscape-Zentrum der Universität von Kalifornien in San Francisco zusammen. Gazzaley hat sein Gehirn detailiert vermessen und es mit den modernsten bildgebenden Methoden als „Glass Brain“, als gläsernes Gehirn, rekonstruiert. Damit ist es möglich, in Echtzeit zu beobachten, welche Bereiche in Harts Hirn besonders aktiv sind, während er trommelt und was passiert, wenn er in Groove gerät.

Überzeugt, dass Musik mehr kann als nur unterhalten, hatte ihn vor allem ein tiefgreifendes Erlebnis mit seiner Großmutter. Als diese immer tiefer in eine schwere Demenz abrutschte, hörte sie auf zu sprechen. Sie lebte bei Mickey Hart auf seiner Farm in Novato. Hart war aber kurz davor, sie in ein Pflegeheim zu geben, weil er nicht mehr zu ihr durchdrang. Da kam ihm die Idee: anstatt mit ihr zu sprechen, für sie zu trommeln. Er spielte einen sanften langsamen Rhythmus. Sie begann zu lächeln, Tränen schossen ihr in die Augen und sie sagte: „Mickey“, immer wieder „Mickey“. Über ein Jahr hatte sie kein Wort mehr gesprochen. „Der Rhythmus“, sagt der Schlagzeuger, „hat sie wieder mit der Welt verbunden, die ihr langsam zu entgleiten drohte.“

Teil dieses Multimedia-Projekts sind auch fünf Kurz-Dokumentationen die bei arte.tv erschienen sind (hier klicken).
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Beteiligte:

Autor: Rüdiger Braun
Gestaltung: Jan Henne
Kamera: Joerg Altekruse, Jonathan Holler
Audio- und Videoschnitt: Rüdiger Braun
Redaktion: Klaus Bachmann, Jan Henne
Verifikation: Tobias Hamelmann
Vertonungen von Körperrhythmen (S.5) mit freundlicher Genehmigung von Prof. Gerold Baier und Sven Sahle, Sprecherin Kerstin Lorisz
Die Einstiegs- und Ausstiegssequenz stammt aus dem Film „Waves upon Waves“ von Joerg Altekruse

Ein besonderer Dank gilt der Robert Bosch Stiftung, ohne deren Unterstützung das Projekt nicht möglich gewesen wäre. Die Produktion „Das Geheimnis des Groove“ entstand im Rahmen der „Masterclass Wissenschafts-Journalismus“. 

Musik und Töne:

Vertonungen von Körperrhythmen mit freundlicher Genehmigung von Prof. Gerold Baier und Sven Sahle, Sprecherin Kerstin Lorisz: S.5
Sound-Collagen Werner Bleisteiner und Rüdiger Braun: S.6, S.11, S.16
Universal Recognition of Three Basic Emotions in Music/Thomas Fritz,Sebastian Jentschke,Nathalie Gosselin,Daniela Sammler,Isabelle Peretz,Robert Turner,Angela D. Friederici,Stefan Koelsch/Current Biology: S.22
Reinhard Flatischler: „Der TaKeTiNa-Grundschritt“ aus „Der Weg zum Rhythmus“, Synthesis Verlag: S.25
Reinhard Flatischler: "Dialog" aus dem Album "Terra Nova", Intuition: S. 30

Fotocredits:

mauritius images/Cultura/Colin Hawkins: S.2
Ed Perlstein/Getty Images: S.3
Pascal Deloche/Getty Images: S.4
Somkiat Fakmee/Colourbox: S.5
mauritius images/Westend61/Florian Kopp: S.6
Joerg Altekruse: S.7, S.8, S.9
Gijsbert Hanekroot/Getty Images: S.10
mauritius images/PACIFIC PRESS/Alamy: S.11
mauritius images / Fotograferen.net / Alamy: 12
Rüdiger Braun: S.12 (klein)
mauritius images/Irene Abdou/Alamy: 14
Nico Herzog, Fotoatelier Bergner - Berlin, privat: S.15 (oben v.li.)
Kevin Statham/Redferns/Getty Images, Stephen J. Cohen/Getty Images, Jannis Wilkin/Presse: S.15 (unten v.li.)
National Science Foundation: S.16
Jean-Louis Atlan / Sygma via Getty Images: S.17
Joerg Altekruse: S.18
mauritius images/Mint Images Ltd.: 20
Joerg Altekruse: S.21, S.22, S.24
Power of Rhythm: S.25, S.26
Joerg Altekruse: S.27
mauritius images/VWPics/Alamy: S.28
Joerg Altekruse: S.29
NDRANIL MUKHERJEE/AFP/GettyImages: S.30
Joerg Altekruse: S.31, S.32
Amanda Gianniny/Getty Images for SXSW: S.33







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