Kapitelübersicht
MusikpsychologieDas Geheimnis des GrooveWenn der Rhythmus stimmt, packt uns der Groove: Wir können nicht mehr stillsitzen, Körper und Geist schwingen im Takt. In sechs Kapiteln beleuchten wir, wie Forscher, Musiker und Mediziner versuchen das Rätsel dieses magischen Zustands zu lüften.
Kapitel 1: Warum wir Rhythmuswesen sind
BiologieWarum wir Rhythmuswesen sindDas Herz schlägt im Ruhezustand sechzig bis achtzig Mal pro Minute, die Lunge füllt und leert sich in einem Viertel dieser Geschwindigkeit. Bestimmte Gene steuern rhythmisch äußerst präzise ablaufende Stoffwechselreaktionen. Ein Leben ohne körpereigene Rhythmen? Unmöglich.
Als die legendäre Hippie-Band Grateful Dead Ende der 1960er Jahre in einer pompösen Villa in den Hollywood Hills an ihrer zweiten Platte feilte, übten Mickey Hart und Bill Kreutzmann, die beiden Drummer, tagelang wie besessen. Manchmal legten sie sich gegenseitig die Arme umeinander und spielten über Stunden komplizierteste Rhythmen und Wirbel gemeinsam auf einer Trommel, jeder mit nur einem Stick, der eine links, der andere rechts.
Sie suchten nach dem ultimativen Groove, jenem magischen Zustand, in dem Körper und Geist eins werden mit der Musik und anderen Menschen. „Wenn der Rhythmus stimmt, in Verbindung mit dem Instrument und zwischen dir und den anderen Musikern“, sagt Hart, „dann fühlst du das mit allen Sinnen. Die Vibration schwingt in deinen Armen, dringt in deine Ohren. Dein Verstand ist ruhig und wach. Du bist pure Emotion.“ Kaum jemand hat den ungewöhnlichen Bewusstseinszustand derart eindrücklich auf den Punkt gebracht wie Mickey Hart.
Diese Resonanz reicht tief. Sie gehört gewissermaßen zu unserer Grundausstattung: Bereits sieben Monate alte Babys können, wie kanadische Wissenschaftler herausfanden, verschiedene Taktarten unterscheiden.
Meist erkennen wir erst, wenn unser Körpersystem aus dem Takt gerät, dass wir durch und durch rhythmische Wesen sind. In unserer interaktiven Grafik auf der folgenden Seite werden Körperrhythmen durch Sonifikationen hörbar.
Oszillation von Kalzium in einer Leberzelle
Komplexe Oszillation von Kalzium in einer Leberzelle
Wachstumshormon eines gesunden Menschen
Wachstumshormon eines Menschen mit Akromegalie (Riesenwuchs durch Hormonüberproduktion)
Gesunder Herzschlag
Regelmäßige Herz-Rhythmus-Störung
Kapitel 2: Gibt es den Rhythmus, bei dem jeder mit muss?
Groove-HitsWas ist ein Rhythmus, bei dem jeder mit muss?Musikalische Rhythmen sind so verschieden wie die Völker, die sich damit ausdrücken. Trotz dieser kaum überschaubaren kulturellen Vielfalt gibt es rhythmische Gesetzmäßigkeiten, die für alle Menschen gültig sind. Diesen „archaischen Mustern“ gehen Forscher in einer Klangkammer in Kalifornien auf den Grund.
Geheimnisse dieser Art versucht der amerikanische Hirnforscher und Musikpsychologe Petr Janata zu lüften. Er erlebte als Keyboarder in einer Folkrockband immer wieder den Groove und wunderte sich darüber, dass er in diesem Zustand über sich hinauswuchs, plötzlich Improvisationen spielen konnte, die er normalerweise als zu schwierig empfand.
„Groove ist wirklich eines der stärksten Erlebnisse, die man mit Musik haben kann, und ich wollte mit wissenschaftlichen Mitteln herausfinden, wie das zustande kommt“, sagt der 50-Jährige mit den wilden, von schwarz nach grau wechselnden Locken.
Als er vor zwölf Jahren sein Groove-Projekt an der Universität von Kalifornien in Davis startete, war er ein Pionier, heute ist er ein Star auf diesem Gebiet. Das Herz seines Labors ist eine schallisolierte Kammer mit etwa neun Quadratmeter Fläche. Schwarzer, samtartiger Stoff an den Wänden schluckt Geräusche, ein Faradaykäfig aus Kupfergeflecht schirmt elektrische Signale von außen ab. Nichts soll die Untersuchungen stören.
Die wichtigsten Zitate im Text:
"Im Groove fühlen wir uns total miteinander
verbunden und erreichen eine neue Ebene im Kontakt mit anderen Menschen.
Ein wichtiger Faktor ist dabei der Bewegungsdrang. Es entstehen sehr positive
und motivierende Gefühle und man verschmilzt mit der Musik."
"Jeder Ton, den du in diesem Zustand erzeugst, jede Bewegung erscheint mühelos und stimmig. Wenn Du allerdings zuviel darüber nachdenkst, analysierst, fällst Du raus."
„Gib dich einfach der Musik hin“, fordert Janata den Studenten auf, „und bewege dich spontan dazu, wenn sie dich anspricht.“ Dann schließt er die dicke Stahltür. Beklemmende Stille in der Kammer. Im angrenzenden Kontrollzentrum überwacht Petr Janata den Versuch auf vier Monitoren. „Bist du bereit?“, fragt er über Mikrofon. „Okay. Musik ab.“
Die Folknummer „Spanish Gold“ und David Bowies „Space Oddity“ lösen beim Testhörer nur ein müdes Fußwippen aus. So richtig in Schwung gerät er hingegen bei Parliaments Funkklassiker „Flash Light“.
Nach jedem Stück muss der Proband Antworten notieren: Wie mitreißend hast du den Song empfunden? Entspricht er deinen musikalischen Vorlieben? So erfassen die Forscher die subjektiven Eindrücke. Die objektive Reaktion zeigen die Messinstrumente. „Flash Light“ lässt die Motorikzentren und das Belohnungssystem im Gehirn des Studenten heftig feuern. Er tanzt regelrecht auf seinem Stuhl – soweit die Kabel das zulassen.
Auf einem Monitor vor Janata zappelt er in Form eines Strichmännchens herum. „Ja“, sagt der Forscher lachend, „jetzt ist er im Groove.“
Als Grandmaster of Groove entpuppte sich Stevie Wonder mit seinem Stück „Superstition“. Der legendäre Titel, den Stevie Wonder 1972 veröffentlichte und auf dem er selbst Schlagzeug spielt, gilt mittlerweile als Referenz der Groove-Forschung. Die Kombination aus Drums und Clavinet, einer Art elektrischem Cembalo, dessen glasklare Rhythmusfigur durch das Stück trägt, lässt Zuhörer fast zwingend Kopf, Rumpf, Hände und Füße bewegen.
Petr Janata hat eine Erklärung für die Hitliste: Funk und Soul hätten ihre Wurzeln tief in der afrikanischen Musiktradition. Diese Musik sei speziell dafür entwickelt worden, Menschen in Bewegung zu versetzen. „Sie ist geradezu Bewegung“, sagt der Neuroforscher. Und jeder Mensch habe mehr oder weniger gute Antennen dafür. „Je klarer wir den Rhythmus aus einem Stück heraushören und je besser es typische Tanzbewegungen unterstützt, desto eher animiert es uns, uns dazu zu bewegen, und desto leichter fallen uns diese Bewegungen.“
Kapitel 3: Wie aus Klängen ein Groove wird
Groove-RezepteWie aus Klängen ein Groove wirdEinen packenden, mitreißenden Rhythmus zu kreieren ist fast noch schwieriger als eine einprägsame Melodielinie zu komponieren. Musiker und Wissenschaftler nähern sich dem Phänomen von unterschiedlichen Seiten und suchen nach den unentbehrlichen Zutaten für eine attraktive Mischung.
Vor allem braucht packende Musik einen eingängigen Beat, einen Grundrhythmus, den wir meist nach wenigen Sekunden heraushören. Hinzu kommen rhythmische Akzente, lauter oder leiser gespielte Schläge oder Töne, die sich vom Grundrhythmus wegbewegen und wieder mit ihm zusammentreffen. Dadurch entsteht ein Wechsel von Spannung und Entspannung.
Was ist Groove?
Musiker und Musiktherapeut Reinhard Flatischler erläutert die musikalischen Prinzipien des Groove.
Ein richtiges Tempo trägt ebenfalls dazu bei, dass einen ein Rhythmus packt. Die meisten Menschen bringt eine Folge von rund 120 Schlägen pro Minute auf Touren. Das ist ungefähr die normale Schrittzahl beim Gehen. Wenn Testpersonen spontan einen Rhythmus klopfen sollen, dann wählen sie zumeist dieses Tempo. Komponisten von Tanzmusik nutzen es häufig, weil dadurch, so vermuten Musikpsychologen, besonders leicht ein „innerer Schwingkreis“ im Gehirn in Gang gesetzt wird.
Auf der nachfolgenden Seite sprechen drei Wissenschaftler und drei Musiker über ihr Verständnis von Groove. Die Musiker-Stimmen haben wir im englischen Original belassen.
Reinhard Kopiez, Professor für Musikpsychologie
Eckart Altenmüller, Professor für Musikphysiologie und Musikermedizin
Ernst Pöppel, Zeitforscher, Professor für Medizinische Psychologie
Ed Thigpen, verstorbener Jazzschlagzeuger
Mickey Hart, Schlagzeuger
Airto Moreira, Perkussionist
Kapitel 4: Wie der Groove im Kopf entsteht
HirnforschungWie der Groove im Kopf entstehtSobald wir rhythmische Klänge hören, beginnen sich Schwingkreise im Gehirn mit dem Takt der Musik zu synchronisieren. Stimmt der geistige Rhythmus mit dem gehörten überein, fühlt sich das gut an. Doch wie genau entsteht das Groove-Gefühl? Und vor allem: Wozu ist es nützlich?
Das Gehirn trifft laufend Vorhersagen, wann der nächste Schlag erfolgen wird. „Es ist befriedigend, wenn der geistige Rhythmus mit dem wirklich gehörten übereinstimmt“, sagt Daniel Levitin, Neurowissenschaftler an der McGill-Universität im kanadischen Montreal und früher selbst Musikproduzent, „und es bereitet Vergnügen, wenn ein guter Musiker diese Erwartung auf eine interessante Weise verletzt – auf diese ‚musikalischen Scherze‘ fahren wir alle ab.“
Ein guter Beat muss vorhersehbar sein und uns dennoch überraschen. Ein völlig exakt gespielter Rhythmus wirkt schnell langweilig, starr, maschinell.
Spielerisch vom exakten Timing abzuweichen, wie es Könner schaffen, kann man allerdings nicht stur trainieren, darin sind sich die meisten Perkussionisten einig. Dafür braucht es viel Erfahrung und Bauchgefühl – etwas, das ein Drum-Computer nicht hat.
Um Menschen zu helfen, dieses Einssein leichter zu erreichen als in einer Band oder einer Trommelgruppe, bastelt Janata gerade an dem Prototyp einer „Groove Enhancement Machine“ – einer Art Groove-Optimierer: Mehrere Teilnehmer sitzen vor Sensorplatten, auf denen sie den von einem Metronom vorgegebenen Takt mit dem Zeigefinger nachklopfen. Ein Computer steuert die Schlagzahl des Metronoms so, dass die Abweichungen von der Synchronizität kleiner werden.
Noch wirkt alles eilig improvisiert, scheint die Maschine direkt aus dem Elektrobaukasten zu kommen. Doch die ersten Auswertungen zeigen: Indem das Gerät dem Takt der Probanden sozusagen entgegenkommt, anstatt auf deren passende Schläge zu warten, können die „Trommler“ sich rascher synchronisieren.
Die wichtigsten Zitate im Text:
„Die sogenannten
Basalganglien, die im Zentrum des Gehirns unter der Großhirnrinde liegen, sind
allgemein sehr wichtig für die Bewegungssteuerung, aber auch, um den Rhythmus
der Musik zu finden und sich danach zu bewegen.“
„Sobald wir uns im Groove
fühlen oder mit anderen Menschen rhythmisch synchronisieren werden gleichzeitig
die sozial-emotionalen Hirnareale aktiviert und die Bereiche des Verstands, die
unser Verhalten kontrollieren. Entscheidend für das Empfinden des Groove ist
die Balance zwischen diesen Hirnarealen.“
Kapitel 5: Wie Musik dem Körper Kraft verleiht
Groove als KraftquelleWie Musik dem Körper Kraft verleihtMax-Planck-Forscher in Leipzig untersuchen, warum rhythmische Musik glücklich und leistungsfähiger macht und wie sich diese Erkenntnisse therapeutisch nutzen lassen.
Die Mafa praktizieren ungewöhnliche Musikrituale. Sie musizieren mit gebogenen Metallflöten, auf die sie Mundstücke aus Ton setzen. „Diese Instrumente zu spielen ist extrem anstrengend“, sagt Fritz.
Aus einem Koffer holt er eine etwa 30 Zentimeter große Flöte. Mit kurzen, heftigen Atemstößen bringt er darauf ein Stakkato lauter, sirrender Töne hervor.
Die Frage ließ Thomas Fritz nicht mehr los. Ihm war bewusst, dass musikalische Synchronisation bei extremer Anstrengung helfen kann. Das belegen die rhythmischen Gesänge von Seeleuten beim Segelsetzen, das koordinierte Hämmern von Zimmerleuten beim Aufrichten eines Dachstuhls, das perkussive kollektive Stampfen von Maniokwurzeln während der Essenszubereitung. Dient der Gleichtakt nur dazu, sich von der Anstrengung abzulenken, oder steckt mehr dahinter?
Audio: So klingt das traditionelle Flötenspiel, mit dem sich die westafrikanischen Mafa in Trance versetzen, eigentlich.
Wie Jymmin die Kraft der Musik nutzt
Um das Phänomen zu untersuchen, verwandelten Tom Fritz und sein Team Fitnessgeräte in Musikinstrumente. Diese Jymmin-Maschinen – der Name leitet sich von Englisch „gym“ für Fitnessstudio und „jamming“ für frei improvisieren ab – produzieren antreibende Rhythmen. Fritz, Techniker Dirk Gummel und Autor Rüdiger Braun bei einem Testlauf.
Seit acht Jahren lässt Fritz Probanden „jymmen“, und die Ergebnisse sind verblüffend: Die Testpersonen auf den klingenden Maschinen empfanden das Training deutlich weniger anstrengend als jene, die sich an herkömmlichen Geräten ertüchtigten und von Musik nur passiv berieselt wurden. Und die Jymmin-Teilnehmer entwickelten tatsächlich deutlich mehr Kraft und Ausdauer. Ihre Muskeln waren elastischer, verbrauchten weniger Energie und entspannten sich in den Erholungsphasen stärker. Selbst das Immunsystem wurde positiv angeregt, wie Blutuntersuchungen zeigten.
„Das Beste aber ist: Jymmin macht glücklich“, sagt Thomas Fritz lachend. „Es triggert stark die Ausschüttung von Wohlfühlhormonen, zum Beispiel von Endorphinen. Das verbessert nachhaltig die Stimmung, treibt an und führt zu einer Art Hochgefühl, das teilweise Stunden nach der Trainingseinheit noch anhält.“
Einen zusätzlichen Kick können die Teilnehmer erleben, wenn sie die Maschinen in kleinen Gruppen gemeinsam zum Klingen bringen. „Wenn man sich rhythmisch und musikalisch expressiv miteinander koordiniert, entsteht gelegentlich richtig intensiver Groove wie in einer guten Band.“
Aus Sicht des Forschers eröffnen die Ergebnisse neue Therapiemöglichkeiten. So habe ein Versuch mit Patienten, die an chronischen Schmerzen leiden, gezeigt, dass Jymmin nicht nur die Schmerztoleranz erhöhe, sondern auch die Angstwerte senke. Starke positive Effekte erwartet Fritz auch bei Schlaganfall- und Parkinson-Patienten. Denn musikalisches und rhythmisches Training, das haben mehrere Studien belegt, hilft den Betroffenen, Beweglichkeit zurückzugewinnen und wieder sicherer und schneller zu gehen.
Kapitel 6: Wie Rhythmus Stress und Schmerzen lindert
Musik als MedizinWie Rhythmus Stress und Schmerzen lindertEs ist ein uraltes Wissen, dass Musik und Rhythmus eine heilsame Wirkung entfalten können. Schamanen nutzen ihre Trommeln für Bewusstseinsreisen. Im Osmanischen Reich gab es große Krankenhäuser, in denen mit Musik und Klängen behandelt wurde. In der modernen westlichen Welt sind Therapeuten gerade dabei, die heilsame Kraft rhythmischer Musik neu zu entdecken.
Im Saal tanzen elf Frauen und acht Männer zwischen 20 und 60 Jahren wie bei einem griechischen Rundtanz in Seitwärtsschritten im Kreis herum. In ihrer Mitte schlägt Frank Rihm, leitender Kreativtherapeut der Klinik, auf einer brasilianischen Surdo-Trommel einen langsamen, gleichmäßigen Rhythmus. Neben ihm spielt der Wiener Musiker und Komponist Reinhard Flatischler auf einem Berimbau, einem einsaitigen Musikbogen, parallel einen etwas schnelleren Takt. Er gibt Anweisungen für Schritte und spricht rhythmische Silben vor:
„Ga-Ma-La-TaKi ...“.
Frank Rihm
Der leitender Kreativtherapeut der Fachklinik Heiligenfeld in Bad Kissingen, arbeitet seit 20 Jahren mit TaKeTiNa
Normalerweise sei es den meisten Menschen unmöglich, willentlich zwei oder mehr unterschiedliche Rhythmen zur gleichen Zeit auszuführen, erklärt Flatischler. „Wenn es jedoch gelingt, mit einem Teil des Körpers in eine unwillkürliche Bewegung zu kommen, dann ist es plötzlich möglich, in einem anderen eine unterschiedliche Bewegung aktiv zu kreieren.“ Dafür müssen „Machen“ und „Geschehenlassen“, Aktivität und Passivität, zusammenwirken.
Gitte Daum
Sie erzählt von ihren Erfahrungen als Patientin beim Rhythmus-Training in der Fachklinik Heiligenfeld
Flatischler hat dem Rhythmus selber viel zu verdanken. „Er hat mir das Leben gerettet“, sagt der 67-Jährige. Als vielversprechendes junges Klaviertalent lernte er bei dem unkonventionellen Pianovirtuosen Friedrich Gulda. Der Heranwachsende durchlebte große Höhen und Tiefen. Immer wieder plagten ihn heftige Asthmaanfälle, Herzrhythmusstörungen und Panikattacken.
Ein Schlüsselerlebnis war für ihn, als er entdeckte, dass er seinen rasenden Puls durch rhythmische Atem- und Stimmübungen dämpfen konnte. „Von da an war meine Neugier auf alles, was mit Rhythmus zu tun hat, enorm geweckt. Ich wollte so einen Weg finden, meine Leiden loszuwerden.“ Er reiste zwar noch einige Jahre als Klaviersolist durch die Welt, studierte aber vor allem die vielfältigen Schlaginstrumente der verschiedenen Kulturen. Er lernte unter anderem bei führenden Tabla-Lehrern in Indien, spielte beim Karneval in Brasilien in Sambaschulen mit und erkundete klösterliche Trommelriten und schamanisches Trommeln in Korea. Im Jahr 1970 begründete er die TaKeTiNa-Methode. Inzwischen ist Reinhard Flatischler ein Star der internationalen Rhythmusszene.
„Das TaKeTiNa-Konzept weiterzugeben liegt mir am meisten am Herzen“, beteuert der Wiener Musiker. „TaKeTiNa ist für mich einer der lustvollsten, einfachsten und radikalsten Zugänge zum Hier und Jetzt. Befürchtungen, Erwartungen, alles, was stresst, ist plötzlich weg.“ Dadurch entfalte sich, ganz von allein, eine heilsame Wirkung. Flatischler ist sein Asthmaleiden seit Jahrzehnten los.
Tests verschiedener Ärzteteams belegen indes nicht nur psychische, sondern auch tief gehende physiologische Effekte. Messungen des Stresszustands vor und nach einem dreitägigen TaKeTiNa-Workshop zeigten, dass Probanden ihren Stresslevel im Schnitt um 30 bis 50 Prozent senken konnten und dass die Werte auch Wochen und Monate danach noch niedriger lagen.
Untersuchungen der Hirnwellen belegen den Trance-Effekt und dessen wohltuende Wirkung.
„Wir beobachten annähernd optimale Erholungszustände, in denen sich Körper und Geist besonders gut regenerieren können. So etwas bekommt man mit Medikamenten nicht hin“, berichtet Klaus Laczika, Arzt an der Universitätsklinik Wien. Rhythmustherapeutische Ansätze wie TaKeTiNa hätten ein riesiges Potenzial, das bislang aber noch viel zu wenig genutzt werde.
Klaus Laczika
Der Musiker und Medizinprofessor an der Uniklinik Wien untersucht die medizinische Wirkung des TaKeTiNa-Trainings
Überzeugt, dass Musik mehr kann als nur unterhalten, hatte ihn vor allem ein tiefgreifendes Erlebnis mit seiner Großmutter. Als diese immer tiefer in eine schwere Demenz abrutschte, hörte sie auf zu sprechen. Sie lebte bei Mickey Hart auf seiner Farm in Novato. Hart war aber kurz davor, sie in ein Pflegeheim zu geben, weil er nicht mehr zu ihr durchdrang. Da kam ihm die Idee: anstatt mit ihr zu sprechen, für sie zu trommeln. Er spielte einen sanften langsamen Rhythmus. Sie begann zu lächeln, Tränen schossen ihr in die Augen und sie sagte: „Mickey“, immer wieder „Mickey“. Über ein Jahr hatte sie kein Wort mehr gesprochen. „Der Rhythmus“, sagt der Schlagzeuger, „hat sie wieder mit der Welt verbunden, die ihr langsam zu entgleiten drohte.“
Teil dieses Multimedia-Projekts sind auch fünf Kurz-Dokumentationen die bei arte.tv erschienen sind (hier klicken).
Nominiert für den Grimme Online Award 2018
Autor: Rüdiger Braun
Gestaltung: Jan Henne
Kamera: Joerg Altekruse, Jonathan Holler
Audio- und Videoschnitt: Rüdiger Braun
Redaktion: Klaus Bachmann, Jan Henne
Verifikation: Tobias Hamelmann
Vertonungen von Körperrhythmen (S.5) mit freundlicher Genehmigung von Prof. Gerold Baier und Sven Sahle, Sprecherin Kerstin Lorisz
Die Einstiegs- und Ausstiegssequenz stammt aus dem Film „Waves upon Waves“ von Joerg Altekruse
Ein besonderer Dank gilt der Robert Bosch Stiftung, ohne deren Unterstützung das Projekt nicht möglich gewesen wäre. Die Produktion „Das Geheimnis des Groove“ entstand im Rahmen der „Masterclass Wissenschafts-Journalismus“.
Musik und Töne:
Vertonungen von Körperrhythmen mit freundlicher Genehmigung von Prof. Gerold Baier und Sven Sahle, Sprecherin Kerstin Lorisz: S.5
Sound-Collagen Werner Bleisteiner und Rüdiger Braun: S.6, S.11, S.16
Universal Recognition of Three Basic Emotions in Music/Thomas Fritz,Sebastian Jentschke,Nathalie Gosselin,Daniela Sammler,Isabelle Peretz,Robert Turner,Angela D. Friederici,Stefan Koelsch/Current Biology: S.22
Reinhard Flatischler: „Der TaKeTiNa-Grundschritt“ aus „Der Weg zum Rhythmus“, Synthesis Verlag: S.25
Reinhard Flatischler: "Dialog" aus dem Album "Terra Nova", Intuition: S. 30
Fotocredits:
mauritius images/Cultura/Colin Hawkins: S.2
Ed Perlstein/Getty Images: S.3
Pascal Deloche/Getty Images: S.4
Somkiat Fakmee/Colourbox: S.5
mauritius images/Westend61/Florian Kopp: S.6
Joerg Altekruse: S.7, S.8, S.9
Gijsbert Hanekroot/Getty Images: S.10
mauritius images/PACIFIC PRESS/Alamy: S.11
mauritius images / Fotograferen.net / Alamy: 12
Rüdiger Braun: S.12 (klein)
mauritius images/Irene Abdou/Alamy: 14
Nico Herzog, Fotoatelier Bergner - Berlin, privat: S.15 (oben v.li.)
Kevin Statham/Redferns/Getty Images, Stephen J. Cohen/Getty Images, Jannis Wilkin/Presse: S.15 (unten v.li.)
National Science Foundation: S.16
Jean-Louis Atlan / Sygma via Getty Images: S.17
Joerg Altekruse: S.18
mauritius images/Mint Images Ltd.: 20
Joerg Altekruse: S.21, S.22, S.24
Power of Rhythm: S.25, S.26
Joerg Altekruse: S.27
mauritius images/VWPics/Alamy: S.28
Joerg Altekruse: S.29
NDRANIL MUKHERJEE/AFP/GettyImages: S.30
Joerg Altekruse: S.31, S.32
Amanda Gianniny/Getty Images for SXSW: S.33