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Der neue Ozean: Die Arktis taut auf - was bedeutet das für uns?

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Ewig schien das Eis zu sein, das den Nordpol bedeckt, doch nun wissen wir: Nirgendwo auf dem Planeten steigen die Temperaturen so schnell wie in der Arktis, binnen weniger Jahre wird sich dort ein Meer öffnen. GEO-Reporter haben in Europa, Asien und Amerika erkundet, welche Konsequenzen das Abschmelzen der nordpolaren Eiskappe für die Natur hat. Und für die Menschen. Ein Multimedia-Dossier in vier Kapiteln

Fotos & Videos: Yuri Kozyrev und Kadir van Lohuizen. Die beiden Fotografen wurden unterstützt von der Fondation Carmignac.

Text: Fred Langer
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Grönland, zentrale Westküste. Auch zwischen Labradorsee und Baffin Bay, an der Davisstraße, weicht das Eis. Gleichzeitig fließen Grönlands Gletscher immer schneller zum Meer, verliert die Insel fünfmal so viel Eis, wie es in den Alpen gibt. Jahr für Jahr
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Sibirien, Halbinsel Jamal. An der Mündung des Ob in die Karasee lagern gewaltige Ressourcen im Untergrund. Jetzt, mit steigenden Temperaturen, werden Billionen Kubikmeter Gas und Hunderte Millionen Tonnen Erdöl zugänglich. Pumpstationen wachsen aus dem dünner werdenden Eis, über das der Hund trottet, der mit den Ölarbeitern in der Basisstation wohnt
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Sibirien, ein Zeltlager der Nenzen. Im Frühjahr treiben die Nomaden ihre Rentiere hinauf an die Ufer des Arktischen Ozeans. Doch sie geraten in Konflikt mit der Rohstoffindustrie, die auf der Halbinsel Jamal rasant an Bedeutung gewinnt – auf jenem Land, das die Ureinwohner als das »Ende der Welt« bezeichnen
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Kanada, Nunavut-Territorium. Eine Spezialeinheit der Armee startet auf ihrer Basis in Resolute Bay die Schneemobile für eine Patrouillenfahrt. Nicht nur Kanada verstärkt seine Militärpräsenz am Arktischen Ozean, der durch den Klimawandel neue strategische Bedeutung gewinnt
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Alaska, bei Barrow. Der Küstenstrich östlich des Ortes bricht teilweise ab, da der Boden taut und das Eis die vom Sturm gepeitschten Wellen nicht mehr zurückhalten kann. Erste Siedlungen an der See bereiten sich auf die Evakuierung vor. Das entfesselte Meer greift nach dem Land
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Kapitelübersicht

I. Kapitel: Alles fließt

Die Erwärmung im hohen Norden sprengt die Prognosen, Forscher sind sprachlos angesichts ihrer Messwerte. Noch verstehen sie die unheimlichen Vorgänge in der Arktis viel zu wenig. Doch das soll sich jetzt ändern

II. Kapitel: Die Schätze aus dem Eis

Im bislang tiefgekühlten Tresor der Erde lagert kostbares Material, das die tauenden Böden nun freigeben. Wo der Eispanzer schmilzt, öffnen sich auch Verkehrswege. Beginnt mit dem Klimawandel ein arktisches Zeitalter? Wer wären die Gewinner, wer die Verlierer? Zukunftsangst und Zuversicht liegen nah beieinander

III. Kapitel: Machtpoker im Norden

Groß ist die Furcht vor militärischer Konfrontation um Hoheitsrechte und Ressourcen. Doch ist sie auch berechtigt? Die gute Nachricht: Bisher scheint der neue Goldrausch eher die Kooperation zu fördern

IV. Kapitel: Was bedeutet das für uns?

Ist extremes Wetter in Mitteleuropa schon eine Folge des Klimawandels in der Arktis? Fragen an die Meteorologin Daniela Jacob

Credits

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I. Kapitel: Alles fließt

Die Erwärmung im hohen Norden sprengt die Prognosen, Forscher sind sprachlos angesichts ihrer Messwerte. Noch verstehen sie die unheimlichen Vorgänge in der Arktis viel zu wenig. Doch das soll sich jetzt ändern
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Das Unheil offenbarte sich im Frühjahr. Als Konrad Steffen in seine Forschungsstation auf dem grönländischen Inlandeis zurückkehren wollte, stand der Gletscherforscher vor einem Trümmerfeld: Die Plattform mit den Mannschaftszelten ragte steil in den Himmel, Container waren geborsten, Ausrüstungsteile auf dem Eis verstreut, dazwischen lag ein Schneemobil in einem Schmelzwassertümpel.

Das „Swiss Camp“, das der Schweizer Glaziologe mit der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich 1990 im Westen der Insel errichtet hatte, war eingestürzt. Die Metallstangen, auf denen es gestanden hatte und die beim Aufbau 15 Meter in die Tiefe getrieben worden waren, konnten die Anlage nicht mehr stützen. „Das Eis unter dem Camp ist in den letzten Jahren um zwölf Meter abgetaut“, sagt Steffen.

Der 67-Jährige ist Experte für die Dynamik der Kryosphäre, also für den Wandel des Eises auf unserem Planeten. Und wie dynamisch dieser Wandel unter der Schweizer Forschungsstation vonstatten ging, veranschaulichen seine Fotos: Im Mai 2012 stand das Camp mit seiner Plattform noch solide auf dem Eis. 2016 schwebt es schon wie ein Stelzenhaus vier Meter darüber. Unheimliche Dinge geschehen hoch im Norden. Nicht nur auf Grönland, wo das geschmolzene Eis in rauschenden Flüssen Richtung Meer strömt. Eine ganze Weltregion taut auf - viel rasanter, als die Forscher es erwartet haben:
  • Die Luft in der Arktis erwärmt sich mehr als doppelt so schnell wie irgendwo sonst auf dem Planeten. Sie war im Herbst 2016 bis zu 20 Grad wärmer als bisher üblich.
  • Das sommerliche Meereis hat gegenüber 1979 etwa 80 Prozent seines Volumens verloren.
  • Verglichen mit 1979, dem Beginn der Satellitenbeobachtung, hat sich die jeweils im September gemessene Meereisbedeckung beinahe halbiert. Im Jahr 2012 war die Ausdehnung des Eises so gering wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen.
  • Ab 2050, vielleicht auch schon früher, wird der Arktische Ozean größtenteils eisfrei sein, selbst am Nordpol.
Ein Ozean öffnet sich. Ein epochaler Wandel ist im Gange, voller Gefahren, aber auch Chancen.
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Seit Beginn der Satellitenbeobachtung im Jahr 1979 hat sich das Meereis im Sommer immer weiter zurückgezogen. Wie stark die Abnahme ist, zeigt der Vergleich der Aufnahme vom September 1988 zu der vom September 2018.
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Wann das große Tauen angefangen hat? „Als ich erstmals als Student nach Grönland kam, in den 1970er Jahren, da erschien uns der Eispanzer dort so stabil“, erinnert sich Steffen. „Veränderungen? Vielleicht in 5000 Jahren.“
Doch plötzlich, ungefähr ab dem Jahr 2000, wandelte sich alles. „Wir können nur staunen, wie direkt der Eisschild auf die Erwärmung reagiert. Alles fließt. Grönland verliert derzeit 300 Kubikkilometer Eis pro Jahr“, sagt Steffen. „Das ist fünf Mal das Eisvolumen der gesamten Alpen. Jahr für Jahr.“
Dramatische Veränderungen registrieren die Messapparate in der Arktis. Am augenfälligsten ist der Rückzug des Meereises. Seit 1979 funken Satelliten Bilder des Arktischen Ozeans zur Erde. Es sind mittlerweile so viele, dass sie sich zu einer Filmsequenz zusammenfügen lassen. So wird das Tauen und Gefrieren des Nordpolarmeeres im Zyklus der Jahreszeiten anschaulich: Am Ende des Winters hat sich die weiße Fläche fast über die gesamte Arktis ausgedehnt. Danach nimmt sie wieder ab, um im September ihr Minimum zu erreichen. In der Animation wirkt dieses rhythmische Wachsen und Schrumpfen wie das Pulsieren eines Organs, wie ein gleichmäßiges Ein- und Ausatmen.

Doch im Laufe der Zeit, je mehr die Bildreihe sich der Gegenwart nähert, wird eine Veränderung sichtbar: Zwar ist die Arktis im Winter auch heute noch überall weiß. Im Sommer jedoch schrumpft das Meereis auf immer kleinere Flächen zusammen, zieht sich weiter und weiter zurück, zum Pol und vor die Nordküsten Grönlands und des kanadisch-arktischen Archipels.

Irgendetwas stimmt nicht mit dem globalen Organ. Es schwächelt.

„Statt endloser weißer Flächen sehen wir mittlerweile viel Türkis und Blau, wenn wir aus dem Fenster schauen“, sagt Thomas Krumpen, der als Meereisphysiker für das Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) regelmäßig zu Messflügen vor Grönlands Küste aufsteigt. „Denn wo sich Schmelzwasser sammelt, wird das Eis schnell dünner, und der Ozean schimmert durch.“

Krumpens Kollege Stefan Hendricks ergänzt: „Diese Schmelzwassertümpel sind für uns ein echtes Problem. Wenn Wasser auf dem Eis steht, versagt das Radar des Satelliten CryoSat-2. Das bedeutet, wir erhalten gerade in den wichtigen Sommermonaten keine großflächigen Satellitendaten zur Dicke des Meereises mehr.“

Die Wissenschaftler müssen nun aus Flugzeugen messen. „Für die Framstraße, zwischen Spitzbergen und Grönland, können wir eine deutliche Abnahme der Meereisdecke belegen“, sagt Thomas Krumpen. „Im Jahr 2001 lag der Wert hier zumeist noch bei 2,1 Metern. Jetzt sind wir bei 1,20 Meter.“
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Wissenschaftler durchbohren den mächtigen Panzer des grönländischen Inlandeises. Sie wollen erkunden, was im Untergrund der größten Insel der Erde geschieht
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Die Proben des Grönlandeises wurden in 1500 Meter Tiefe gewonnen. Es ist 22000 Jahre alt und soll Aufschluss über Klimaveränderungen in prähistorischer Zeit geben, um für die Gegenwart Lehren ziehen zu können
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Nicht nur die Feldforscher blicken irritiert auf ihre Befunde; kaum einer von ihnen hätte erwartet, dass die Werte sich so dramatisch verändern. Auch die anderen Klimaforscher in den Instituten überall auf der Welt studieren ungläubig die Zahlenkolonnen. Wie Thomas Jung, Experte für Klimamodellierung am Hauptsitz des AWI in Bremerhaven. Bei ihm fließen die Daten zusammen, er versucht, aus Abertausenden von Einzelbeobachtungen ein aussagekräftiges Gesamtbild zu gewinnen.

„Wir beobachten Veränderungen, die es nirgendwo sonst auf der Welt gibt. Was heute noch ein Extrem ist, scheint morgen schon normal“, sagt Jung. In den vergangenen drei Jahren haben die Messstationen ein Dutzend neuer Extremwerte aufgezeichnet. Im Jahr 2016 registrierten sie eine regelrechte Hitzewelle am Pol: Ab Mitte September vergrößert sich die Eisfläche normalerweise wieder, aber in jenem Jahr kehrte sich der Prozess Mitte November plötzlich um - sogar in der Zeit des Wachstums ging die Eisdecke an einigen Tagen zurück. Und 2018 wurde im Norden von Grönland mitten in der Polarnacht eine Temperatur von plus sechs Grad gemessen.

Ist das schon der Beginn einer neuen Zeit? Oder sind das noch Ausreißer innerhalb der Norm?

Beides trifft zu. Thomas Jung erläutert: „Derartige Einbrüche warmer Luft sind zwar selten, es hat sie in der Vergangenheit aber durchaus schon gegeben. Das sind zunächst Einzelereignisse, aus denen sich nicht ohne Weiteres eine Tendenz ablesen lässt. Ich glaube nicht, dass der von Menschen verursachte Klimawandel diese Extremwerte vollständig erklären kann.“

Teilweise aber eben doch. Denn die von Menschen herbeigeführte Erwärmung verstärkt solche natürlich vorhandenen Extreme, feuert sie künstlich an.
Jung: „Die längerfristigen Veränderungen gehen sehr wohl auf den erhöhten Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre zurück. Hinter der Abnahme des Eises steckt eindeutig der Klimawandel. Kein Zweifel: Das haben wir verursacht.“
Und die Zukunft? Weit reichende Vorhersagen sind immer noch Spekulation, es existieren allzu viele Faktoren, die sich gegenseitig beeinflussen. Eine der wichtigsten Variablen: Wie reagiert die Menschheit? Dämpfen wir die Erwärmung des Klimas? Oder heizen wir sie noch weiter an?

Und: Ist vielleicht sogar schon ein Kipppunkt erreicht?
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In einem Käfig schweben Wissenschaftler vom kanadischen Eisbrecher »Amundsen« hinab auf die zugefrorene Meeresoberfläche der Hudson Bay. Um mehr als 20 Prozent ist die Eisbedeckung hier seit den 1980er Jahren zurückgegangen
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Kipppunkt, Wissenschaftler verwenden auch den englischen Begriff tipping point: ein harmlos klingender Name für ein Phänomen von gewaltiger Durchschlagkraft. Es ist jener Punkt, ab dem es kein Halten mehr gibt. Wenn ein Kipppunkt erst einmal überschritten ist, dann gerät das gesamte System aus dem Gleichgewicht.

Das Problem: Der Punkt lässt sich aus zeitlicher Nähe nur schwer erkennen, so, wie man ein Gemälde in seiner Gesamtheit nicht erfassen kann, wenn man unmittelbar davor steht. Nähern wir uns diesem Punkt? Ist er erreicht? Oder gar schon überschritten? Es gibt durchaus Indizien für Letzteres.
Auffällig etwa ist, wie stark die Fließgeschwindigkeit des grönländischen Eises zunimmt. Am Jakobshavn-Isbræ-Gletscher an der Westküste hat sie sich seit 1992 mehr als verdreifacht. Mit nun mehr als 17 Kilometern pro Jahr bewegt sich der Eisstrom meerwärts - nach den Maßstäben der Gletscherforschung rasend schnell.

Doch nicht nur die Gletscher an der Küste sind in Bewegung. Wissenschaftler fragen sich mittlerweile, ob das Gefüge des gesamten Eispanzers, der eine Fläche fast fünfmal so groß wie Deutschland hat, instabil wird. In seinem Innern nämlich bewegen sich gewaltige Eisströme. Auch sie offenbar mit wachsender Geschwindigkeit.

Einer der größten von ihnen, Negis genannt (Kurzwort aus „Nordöstlicher grönländischer Eisstrom“ auf Englisch) wird gerade intensiv untersucht. Ein internationales Forscherteam ist dabei, mehr als zweieinhalb Kilometer tief ins Eis zu bohren, um mehr darüber erfahren, was sich unter der größten Insel der Welt tut.

Denn das ist von globaler Bedeutung. Wenn das Grönlandeis schmilzt, steigt der Meeresspiegel weltweit an. Noch geschieht dies erst im Millimeterbereich. Wenn allerdings das gesamte Inlandeis tauen würde, stiegen die Ozeane um bis zu sieben Meter, würden Küsten, Städte, Inseln, ganze Länder versinken.
Mit Katastrophenszenarien dieser Art wäre wahrscheinlich erst in einigen Hundert Jahren zu rechnen. Doch die Arktis, das Epizentrum der Erderwärmung, ist ein Frühwarnsystem. Und der Alarm ist ausgelöst.
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Ein Grund für die Dramatik der Veränderungen dort sind Rückkopplungsmechanismen, die kleine Veränderungen machtvoll antreiben.
Die tauenden Permafrostböden der Arktis sind ein Beispiel für solche sich selbst verstärkenden Prozesse. Der normalerweise ganzjährig gefrorene Grund erwärmt sich; am stärksten, das zeigt eine kürzlich veröffentlichte Studie von Wissenschaftlern aus 26 Ländern, in Sibirien. Dort stieg die Bodentemperatur, gemessen in mehr als zehn Meter Tiefe, stellenweise um 0,9 Grad innerhalb der vergangenen zehn Jahre an. Als Konsequenz versinken die Fundamente von Gebäuden im Morast, Rohrleitungen bersten, Straßen und Rollbahnen brechen auf. Aber die Folgen dieses Prozesses reichen noch sehr viel weiter.

Organisches Material, Pflanzenreste vor allem, Jahrtausende im Permafrost tiefgekühlt, werden nun für Mikroorganismen zugänglich. Bakterien etwa können die aufgetaute Biomasse abbauen. Es kommen Stoffwechselprozesse in Gang, die Kohlendioxid freisetzen. Und Methan, das noch 30-mal schädlicher für das Klima ist. So produziert die Arktis jene Treibhausgase selber, die ihr Klima zerstören. Sie wird zur Quelle ihrer eigenen Erwärmung.

Es ist ein Teufelskreis, der sich da in Bewegung setzt, und es ist bei Weitem nicht der einzige. Die sogenannte „Arktische Verstärkung“ ist ein komplexes Gefüge sich gegenseitig aufschaukelnder Faktoren.

Der augenfälligste: Eine geschlossene Eisdecke reflektiert die Sonnenstrahlen in den Weltraum. Das dunkle Wasser jedoch nimmt die Energie auf. Die Folge: Es erwärmt sich, wodurch das Eis noch stärker zurückgeht.

Höhere Wassertemperatur bedeutet mehr Verdunstung und folglich mehr Wasserdampf in der Atmosphäre. Das wiederum hat zur Folge, dass die eigentlich trockene Atmosphäre in der Arktis deutlich mehr Wärme speichern kann. Wolken entstehen. Und die Kondensation von Wassermolekülen setzt bei der Wolkenbildung wiederum Wärme frei. Die globale Erwärmung wird zu ihrem eigenen Motor.

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Fesselballon

Sensorpakete liefern Daten über Temperatur, Strahlung, Aerosolpartikel und Wolken

EM-Bird

Ein torpedoförmiges Gerät bestimmt die Dicke des Eises per Laser und mit elektromagnetischen Messungen

Optische Satelliten

Sie liefern Bilder von der Oberfläche (wenn der Himmel wolkenfrei ist)

Aktive Mikrowellen-Satelliten

messen Eis- und Wasser- eigenschaften unter anderem mittels Radar

Passive Mikrowellen-Satelliten

vermessen das Eis über die Strahlungstemperatur der Arktis

Forschungsflugzeuge

übernehmen Messun gen, Transporte und Versorgung der »Polarstern«

Lichtmessung Sensoren

messen Sonneneinstrahlung, reflektiertes Licht und die Wärmestrahlung des Eises

Meereis-Bojen

messen, wie sich die Eisdicke über die Zeit verändert

Untereis-Sonar

ist am Meeresgrund verankert und misst über lange Zeiträume die Dicke des Eises

Windensystem

misst die chemischen und physikalischen Eigenschaften der gesamten Wassersäule

Forschungsschiff »Polarstern«

ist die Zentrale der Expedition und lässt sich einfrieren, um mit dem Eis zu driften

Forschungslager

Observatorium auf dem Eis, an dem etwa Bohrungen in der Eisdecke vorgenommen werden

Verankerungen

Am Meeresgrund verankerte Sensorsysteme messen Strömungsgeschwindigkeit und -richtung, Temperatur und Salzgehalt

Daten gewinnen, damit wir den Klimawandel verstehen lernen

Dieses Jahr bricht die größte Arktisexpedition aller Zeiten auf - die Mission »MOSAiC«. Zentrum steht das Forschungsschiff »Polarstern«, das für knapp ein Jahr im Eis festfrieren und mit ihm gen Nordpol treiben soll – umschwärmt von einer Armada aus Messgeräten. Klicken Sie auf die Symbole, um mehr zu erfahren.

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Trotz solcher Erkenntnisse: Das große, unheimliche Ganze des Klimawandels in der Arktis ist nach wie vor ein Rätsel. Um es zu entschlüsseln, rüsten Wissenschaftler derzeit die größte Arktisexpedition aller Zeiten aus.
Im September dieses Jahres wird der deutsche Forschungseisbrecher „Polarstern“ in Tromsø, Norwegen, auslaufen, beladen mit wissenschaftlichen Instrumenten. Das fast 120 Meter lange Schiff soll im Packeis festfrieren. Als freiwillig Gefangene wird die „Polarstern“ dann ein Jahr mit der natürlichen Eisdrift über die Polkappe in Richtung Atlantik treiben. Weitere Eisbrecher, aus Russland, Schweden und China, sind zur logistischen Unterstützung im Einsatz. Auf dem Eis rund um die „Polarstern“ soll ein Netzwerk von internationalen Forschungscamps entstehen, das mitreist auf dem gefrorenen Ozean. 2020 dann, so der Plan, gibt das Eis die „Polarstern“ zwischen Grönland und Spitzbergen wieder frei.

600 Menschen aus 17 Ländern nehmen an der „MOSAiC“ genannten Mission teil, Aberhunderte Wissenschaftler in Instituten überall auf der Welt werden die Daten verarbeiten. Das Ziel ist nicht weniger als ein Durchbruch in der Klimaforschung; die Wissenschaft will die Austauschprozesse zwischen Ozean, Eis und Atmosphäre endlich verstehen lernen. Neue, leistungsfähigere Rechner und künstliche Intelligenz sollen helfen, aus den gigantischen Datenmengen stark verbesserte Klimamodelle zu gewinnen. Dies wäre so wichtig, um den Klimawandel zu erfassen und zu begreifen, was da oben im Norden tatsächlich vor sich geht.

Denn dieses „da oben“ ist nur gefühlt ganz weit weg: Von Berlin bis zum nördlichen Polarkreis sind es lediglich rund 1500 Kilometer - die Arktis ist uns näher als Madrid. Wir sind sehr nah dran am Klimawandel.
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II. Kapitel: Die Schätze aus dem Eis

Im bislang tiefgekühlten Tresor der Erde lagert kostbares Material, das die tauenden Böden nun freigeben. Wo der Eispanzer schmilzt, öffnen sich auch Verkehrswege. Beginnt mit dem Klimawandel ein arktisches Zeitalter? Wer wären die Gewinner, wer die Verlierer? Zukunftsangst und Zuversicht liegen nah beieinander
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Der Eisbrecher »Baltika« wartet darauf, dass ein Tanker an der Pumpstation vor der sibirischen Halbinsel Jamal beladen wird. Das Öl fließt in Pipelines durch die flachen Küstengewässer hierher, wo große Schiffe ankern können. Neuerdings läuft der Betrieb am »Arctic Gate« auch im Winter ohne Unterbrechung
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Am Ende eines langen Winters brechen die Nomaden vom Volk der Nenzen nach Norden auf. In manchmal kilometerlangen Trecks ziehen sie mit ihren Rentieren auf der sibirischen Halbinsel Jamal zu den Sommerweiden am Nordpolarmeer. 1200 Kilometer legen manche Familien in jedem Jahr zurück, auf Routen, die ihre Vorfahren schon seit Jahrhunderten genutzt haben. Und die jetzt, sehr plötzlich, in eine ganz neue Welt führen.

Kaum eine andere indigene Bevölkerungsgruppe Sibiriens hat ihre Kultur so selbstbewusst beibehalten wie die Nenzen; die eigene Sprache ist fest im Alltag verwurzelt. Jamal, der Name ihrer Heimat, bedeutet „Ende der Welt“. Und kaum eine Region ist so stark von jenem Wandel betroffen, der die gesamte Arktis mit Macht ergreift.

Die Halbinsel, die sich an der Mündung des Ob in die Karasee erstreckt, weitaus größer als Österreich, ist nicht mehr das Ende der Welt. Sie wird zum Ausgangspunkt neuer, weltumspannender Transportrouten. Ob auf ihr auch noch Platz bleibt für die alten Wege des Hirtenvolkes, scheint zweifelhaft.
Pipelines, Straßen und Bahnstrecken kappen die Wanderwege der Nomaden. Karawanen von Lastwagen, nicht von Rentieren, schieben sich nun durch die Tundra. „Neft i gas“, „Öl und Gas“, so lautet auf Russisch die Zauberformel, die in rasender Geschwindigkeit ganze Regionen Sibiriens von Grund auf verwandelt, die Heerscharen von Arbeitern an das einstige Ende der Welt lockt.
Auf der Halbinsel Jamal lagert eines der umfangreichsten Erdgas-Reservoirs des Planeten. Das ist seit Langem bekannt. Doch erst jetzt, durch den Klimawandel, lässt es sich nutzen.

Das Erdgasfeld Bowanenkowskoje, das größte auf Jamal, wurde 1972 entdeckt, 2012 begann die Förderung. Bowanenkowskoje allein könnte den Gasbedarf Deutschlands für ungefähr ein halbes Jahrhundert decken. Die nachgewiesenen Vorräte auf der gesamten Halbinsel belaufen sich nach Angaben des russischen Energiekonzerns Gazprom auf 26,5 Billionen Kubikmeter. Das ist weit mehr als in den gesamten USA und etwa so viel wie in Katar. Hinzu kommen 300 Millionen Tonnen Öl.

Jetzt, da das Eis auf dem Meer immer weiter zurückweicht, können die Schätze von Jamal nach Osten wie nach Westen verschifft werden, zu den Abnehmern in Fernost und in Europa. Im Jahr 2012 hatten an der Nordostküste Jamals die Bauarbeiten für den Hafen Sabetta begonnen, 2017 wurde dort der erste Tanker mit verflüssigtem Erdgas beladen.

„Aus dem Nichts wurde eine Kathedrale des 21. Jahrhunderts errichtet“, schwärmt der Chef des französischen Mineralölkonzerns Total. Das Unternehmen ist, gemeinsam mit chinesischen Firmen, an dem gigantischen Projekt beteiligt; angeführt wird das Joint Venture von Nowatek, dem größten privaten Gas- und Ölförderer in Russland.

Für rund 23 Milliarden Euro wuchsen nicht nur Verladeterminals ins Eismeer, das seinem Namen immer weniger gerecht wird, es entstanden auch Straßen, Bahnstrecken, Siedlungen, ein Kraftwerk, ein Flughafen. Bestandteil des Jamal-Projekts sind außerdem 15 eisbrechende Flüssiggastanker, jeder fast 300 Meter lang; Stückpreis: 320 Millionen Dollar. Sie sollen dafür sorgen, dass der Transport auch im Winter nicht zum Erliegen kommt.

Die Nordostpassage zwischen Europa und Asien, in Russland „Nördlicher Seeweg“ genannt, wird nun erstmals ganzjährig von der zivilen Schifffahrt genutzt. Ein alter Menschheitstraum ist wahr geworden.
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Der auftauende Boden bringt Kostbarkeiten zutage, die Tausende Jahre im Eis lagerten. Die Schatzsucher haben im Ulus Werchojansk den Stoßzahn eines Mammuts gefunden und hoffen auf einen guten Preis für das Elfenbein
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Europäische Seefahrer und Geografen spekulierten schon seit mindestens 400 Jahren, seitdem der Entdecker Ferdinand Magellan Südamerika umsegelte und so den Weg nach Asien gefunden hatte, über eine Route, die auch im Norden zum Pazifik führt. Viele frühe Arktisforscher waren überzeugt, am Pol sei das Meer eisfrei; eine Theorie, die noch bis weit ins 19. Jahrhundert lebhaft diskutiert wurde.

1845 entsandte die Marine des britischen Empire zwei ihrer besten Schiffe, um den mythischen Seeweg in der eisigen Inselwelt vor dem heutigen Kanada zu finden: „Erebus“ und „Terror“, zwei stahlgepanzerte Kriegsschiffe, geführt von Admiral John Franklin.

Die Mission geriet zu einem Desaster. Franklins Schiffe froren gleich im ersten Winter im Packeis fest. Auch im zweiten schloss das Eis sie ein. Und auf diesen folgte ein Sommer, so kalt, dass die Arktis selbst in den warmen Monaten ihren frostigen Griff nicht lockerte.

Nach dem dritten Winter entschlossen sich die verzweifelten Besatzungen zum Hungermarsch durch die Eiswüste. Doch keiner der ursprünglich 129 Mann an Bord überlebte.

Die Nordwestpassage wurde zwar bald darauf gefunden, im Verlauf der Suche nach der verschollenen Franklin-Expedition (es war die größte Suchaktion des 19. Jahrhunderts, und in ihr sollen mehr Menschen ums Leben gekommen sein als bei der eigentlichen Expedition). Die Idee aber, dass dort oben regelmäßig Schiffe fahren könnten, erwies sich als absurd.

Doch nur einen Wimpernschlag der Erdgeschichte später, genau 161 Jahre nach jenem Sommer, in dem Franklins Schiffe festgefroren im Packeis lagen, durchfuhr ein Handelsschiff erstmals planmäßig die Nordwestpassage. Und: Im August 2008 stellten Wissenschaftler nach Auswertung von Satellitenbildern ungläubig fest: Erstmals in historischer Zeit waren sowohl die Nordwest- als auch die Nordostpassage vor der Küste Sibiriens gemeinsam eisfrei.

Schifffahrtsrouten, die den Warenaustausch zwischen Asien und Europa drastisch beschleunigen, öffneten sich gleichsam von heute auf morgen. Der übliche Weg von Rotterdam durch den Suezkanal nach Tokio ist 21.000 Kilometer lang, über die Nordostpassage sind es nur noch 14.000 Kilometer.

Aus dem alten Mythos vom eisfreien Meer hoch im Norden wird Realität. Viele Wissenschaftler sind sich einig: Im Laufe der nächsten Jahrzehnte werden die Gewässer am Nordpol im Sommer weithin eisfrei werden. Chancen tun sich auf, ein Ozean der Möglichkeiten öffnet sich. Sinnbildlich dafür ist die „Venta Maersk“, Heimathafen Kopenhagen, 200 Meter lang, Ladekapazität 3596 Container. Im vergangenen Jahr fuhr sie als erstes großes Containerschiff auf der Nordostpassage durch die Arktische See.

Die Reederei Maersk machte Schlagzeilen mit dieser epochalen Fahrt, teilte aber sogleich mit: Es war nur ein Test. An einen ständigen Betrieb auf dieser Route sei nicht gedacht.

Die Verkehrsströme im Arktischen Ozean gleichen immer noch Rinnsalen. Nicht einmal hundert Handelsschiffe sind derzeit dort pro Jahr unterwegs, Nordwest- und Nordostpassage zusammengerechnet. Den Suezkanal passieren im gleichen Zeitraum rund 18.000 Schiffe. Hauptgrund für das bisher geringe Interesse an den Nordrouten: die mangelnde Infrastruktur; keine großen Häfen, keine Wege für den Weitertransport von Containern. Wohin auch?

Die Container-Linienschifffahrt, die einen Teil des Überseehandels abwickelt, folgt einer komplexen, ausgefeilten Logistik. Ein großes Containerschiff wird nicht in Shanghai be- und in Hamburg entladen, es läuft auf seiner Fahrt noch ein halbes Dutzend weitere Häfen an, zu exakt definierten Zeitpunkten.
„Da geht es vor allem um Pünktlichkeit. Schnelligkeit ist nicht das erste Kriterium“, erläutert Christian Denso vom Verband Deutscher Reeder. „Container-Linienschiffe werden da oben nichts gewinnen.“

Wer dann? „Interessant könnte der Seeweg für den Transport von Projektladungen sein“, so Denso; wenn also beispielsweise Bauteile für eine große Kranbrücke ohne Zwischenstopp von Asien nach Europa transportiert werden sollen. „Treibstoff ist der teuerste Faktor. Ein Drittel weniger - das ist ein großer Anreiz für die Nordroute.“ Auch Schwergutschiffe, Erzfrachter zum Beispiel, könnten profitabel auf ihr fahren.

Zumal Russland die Nordostpassage gezielt zu einer Frachtroute für Ressourcentransporte ausbauen will und die dafür erforderliche Infrastruktur stetig verbessert. Präsident Wladimir Putin spricht bereits von „einem neuen Kapitel in der Geschichte der kommerziellen Schifffahrt“.

Moskau träumt davon, dass trostlose Küstendörfer sich zu glitzernden Städten mausern; sieht ein arktisches Zeitalter heraufziehen, in dem die Abwanderung aus dem Norden ein Problem von gestern ist.
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Ein Zelt ist das Zuhause der Nenzen. Die Familienbande sind ihr Halt in einer Welt, die für sie immer feindlicher wird. Die Flüsse, die die Nomaden auf ihren Wanderungen überqueren, frieren jetzt später zu und tauen früher auf. Es regnet häufiger, und die Futterpflanzen der Rentiere liegen nun unerreichbar unter gefrorenen Niederschlägen
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Wie in Salechard am Ufer des Ob, der Hauptstadt des Autonomen Kreises der Jamal-Nenzen. Die Nenzen und ihre Rentierherden mögen unter der Öl- und Gasindustrie leiden, für die 42.000 Einwohner Salechards ist sie ein Segen. Die Stadt gilt, gemessen am durchschnittlichen Einkommen, als eine der reichsten in Russland.

Salechard ist eine arktische Boomtown, ein sogenanntes „russisches Emirat“. Eine Insel des Wohlstands, umgeben von mückenverseuchten Sümpfen, im Winter tiefgefroren bei immer noch mitunter minus 30 Grad. Aber dann machen viele ihrer Bewohner Urlaub im sonnigen Süden.

„Russland ist weit vorn, wenn es um die Erschließung der Ressourcen in der Arktis geht“, sagt André Wolf, Leiter des Forschungsbereichs Energie, Klima, Umwelt am Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut. „Das Land hat einen großen Startvorteil durch seine lange Erfahrung. Anders als etwa in Kanada, Alaska oder gar Grönland gibt es seit vielen Jahrzehnten Verhüttungsindustrie in Sibirien.“

Mit teils gravierenden Folgen für die Umwelt. Das arktische Ökosystem ist fragil, Narben in der Landschaft verheilen schlecht. Und eine Ölpest etwa nach der Havarie einer Förderplattform wäre in polaren Gewässern ein ökologischer Albtraum. Es würde lange dauern, bis Hilfe vor Ort einträfe. Und Schadstoffe bauen sich im kalten Wasser der Arktis nur sehr zögerlich ab.

„Neft i gas“, Öl und Gas, so lautet die Formel für das Erwachen Sibiriens. Doch ihr wohnt auch ein Fluch inne: Das Schmelzen des Eises verursacht einen Ansturm auf genau jene fossilen Brennstoffe, welche die Erwärmung der Arktis und des gesamten Erdballs überhaupt erst mit ausgelöst haben. Und sie werden diese weiter antreiben.

Dass Russland bei der Energieversorgung seiner neu erschlossenen Förderfelder nicht mehr nur auf fossile Brennstoffe setzt, kann Umweltschützer auch nicht unbedingt beruhigen.

In diesem Sommer wird die Nordostpassage die Durchfahrt eines schwimmenden Atomkraftwerks erleben, des weltweit ersten seiner Art. In St. Petersburg fertiggestellt und in Murmansk mit Brennelementen ausgestattet, wird der Meiler „Akademik Lomonossow“ schließlich in die Hafenstadt Pewek geschleppt werden, gelegen an der Ostsibirischen See. Die beiden Reaktorblöcke sollen den Ort und die ihm vorgelagerten Ölbohrplattformen mit Energie versorgen.


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Das Schmelzwerk Nadeschda ist der größte metallurgische Komplex der Welt. Durch Nickel, Kupfer und andere Schätze wuchs das sibirische Norilsk zur nördlichsten Großstadt Russlands  - und wurde zu einem der schmutzigsten Orte der Erde. Im Juni 2019 ist in Norilsk erstmals seit 40 Jahren ein Eisbär gesichtet worden. Das ausgehungerte Tier muss auf seiner Nahrungssuche wohl Hunderte Kilometer gewandert sein
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Nicht überall jedoch bricht die Zukunft so unvermittelt heran. Auf Grönland etwa, wo die Euphorie groß war, weil das zurückweichende Eis Bodenschätze freigibt, ist Ernüchterung eingekehrt. Die Lagerstätten sogenannter Metalle der Seltenen Erden versprachen schnellen Aufschwung für die Insel, die unabhängig werden will von Dänemark.

Die Metalle der Seltenen Erden gelten gewissermaßen als das Erdöl von morgen. Ein Zukunftsstoff, unerlässlich für die Fertigung von Schlüsseltechnologien; bei Leuchtdioden, Bildschirmen, Katalysatoren, in der Lasertechnik und der Elektromobilität etwa kommen sie zum Einsatz.

Doch was nützen viel versprechende Lagerstätten, wenn es keine Infrastruktur gibt, um sie abzubauen auf der riesigen Insel mit ihren rund 56.000 Einwohnern, die in weit entfernt liegenden Siedlungen leben? Keine Straßen, keine Energieversorgung, keinerlei Transportmöglichkeiten, nicht innerhalb Grönlands und schon gar nicht hin zu internationalen Abnehmern?

China wollte investieren und Arbeiter wie Experten schicken. Doch bevor der Streit mit dem Westen um die strategisch wichtigen Rohstoffe eskalierte, fielen die Rohstoffpreise weltweit. Die Abbaupläne ruhen. Vorerst.
Denn der Rohstoffhandel ist ein zyklisches Geschäft, die Erschließung der Arktis geht weiter. „Exploration wird langfristig und strategisch geplant, aktuelle Marktpreise und konjunkturelle Entwicklungen spielen da keine Rolle“, erläutert André Wolf. „Alte Lagerstätten sind erschöpft, neue müssen erschlossen werden“, sagt der Rohstoffexperte vom Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut. „Der Drang in die Arktis wird zunehmen, der technische Fortschritt die Kosten für die Erschließung abgelegener Regionen kompensieren.“

Und so bauen nicht nur die Russen neue Kaianlagen. Auch auf Island wird ein Tiefseehafen für die Asien-Europa-Route entstehen, im Nordosten der Insel am Finnafjord. Der Hafen soll als Basis für eine zukünftige Öl- und Gasförderindustrie weit draußen vor der Insel dienen. Oder als Zwischenlager für Rohstoffe aus Grönland.

Es ist eine Planung, die über Jahrzehnte in die Zukunft reicht, doch weit mehr als nur eine Vision. Experten gehen davon aus, dass der Schiffsverkehr sich im hohen Norden innerhalb eines Jahrzehnts vervielfachen wird. Die Arktis sei „die beste Investmentchance der letzten 12.000 Jahre“, seit dem Ende der letzten Kaltzeit also, dieser Satz wird Scott Minerd zugeschrieben, Manager der amerikanischen Investmentgruppe Guggenheim.
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Die Schülerin hat für den Abschlussball in Nadym ein duftiges Kleid gewählt. Die Stadt gilt als eines der »russischen Emirate«: boomende Orte am Rand der neuen Gas- und Ölfelder, mit überdurchschnittlichen Löhnen
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Jahrtausendelang blieb die Arktis unverändert, nun aber ist alles in Bewegung geraten. Neue Häfen, neue Städte, neue Arbeitsplätze unter Bohrgestängen und fauchenden Gasfackeln, an kilometerlangen Kais und in neuen Hotels; der Klimawandel produziert auch Gewinner. Wohl rund zehn Prozent der vier Millionen Menschen, die in der Arktis leben, sind Angehörige indigener Völker - und finden sich damit eher aufseiten der Verlierer.

Steigende Temperaturen bedrohen die traditionellen Wirtschaftsweisen. Fischschwärme verlagern ihre Routen, neue Arten tauchen auf und verdrängen die angestammten; der Polardorsch etwa verschwindet wegen der steigenden Wassertemperaturen aus den Fjorden Spitzbergens, der Kabeljau rückt nach. Das Eis, auf dem die Robben sich aufgehalten haben und auf welchem die Jäger sie erbeuten konnten, ist weithin verschwunden. Oder es ist zu dünn für die Hundeschlitten, aber noch zu dick für die Boote.

Die traditionellen Wanderrouten der Nenzen auf Jamal führen über zugefrorene Flüsse und Seen. Deren Querung wird riskanter, das Tauwetter ist unberechenbarer und setzt früher im Jahr ein, die Wanderungen erreichen immer häufiger nicht mehr ihr Ziel. Und ein neues, gefürchtetes Phänomen bricht mit den steigenden Temperaturen über die Arktis herein: Regen.

Der Regen gefriert am Boden und bildet einen Eispanzer, der die ohnehin spärliche Vegetation für die Rentiere unerreichbar macht. Es gab schon Jahre, in denen verhungerten sie zu Zehntausenden.

Und es trifft nicht nur die sibirischen Nomaden. Auch auf Spitzbergen, wo die Temperaturen innerhalb von nur zwei Jahrzehnten um mehr als 2,6 Grad gestiegen sind, in den Wintermonaten sogar um mehr als sieben Grad, haben die Niederschläge stark zugenommen.

Dadurch werden Berghänge zu einer potenziell todbringenden Gefahr. Auf den vereisten Flächen gerät der Schnee ins Rutschen, die entstehenden Lawinen reißen Häuser mit. Die Verwaltung im Hauptort Longyearbyen hat Dutzende von Häusern für unbewohnbar erklärt. Ein Teil der Einwohner soll umziehen in die Ebene am Fjord.

Die Landschaft verändert sich. Sinnbild dafür: Der Krater von Batagai, eine Senke in der sibirischen Taiga, bis zu hundert Meter tief und einen Kilometer lang. Entstanden ist er, weil im Untergrund gebundene Eismassen aufgetaut sind und der Boden eingesackt ist.

Wer am Grund des Kraters steht, hört die unheimlichen Knackgeräusche, die aus den Steilwänden dringen. Manchmal lösen sich Erdschollen aus dem tauenden Permafrost und stürzen krachend herab. Männer durchwühlen die Schlammhaufen auf der Suche nach Wertvollem: Überbleibsel eiszeitlicher Wollnashörner etwa, die hier jahrtausendelang im Permafrostboden geruht haben. Oder, im besten Falle: Stoßzähne von Mammuts, die sich teuer an Elfenbeinhändler verkaufen lassen.


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Zwar steigt die Temperatur, doch die Sonne macht sich rar. Monate dauert die Polarnacht in Bowanenkowo, dem neuen Zentrum der Gasförderung in Sibirien. Eine Lichtdusche mildert Winterdepressionen
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Auch die Sammler und Händler des Mammut-Elfenbeins gehören zu den Gewinnern des Klimawandels. Doch der tauende Permafrostboden gibt nicht nur Schätze frei, er lässt auch die Straßen absacken, Fundamente einsinken, Versorgungsleitungen bersten. In der sibirischen Großstadt Jakutsk sind mehr als 300 Gebäude durch Senkungen des Bodens beschädigt, darunter ein Kraftwerk und der Flughafen. Ganze Inselgruppen, die aus Permafrostboden bestanden, sind bereits ohne jede Spur in der Arktischen See verschwunden.

Der russische Energiekonzern Gazprom versenkt sogenannte Thermostabilisatoren in der Erde; Kühlelemente, mit denen die Bodentemperatur unter den Bohrtürmen und Pipelines künstlich unterhalb des Gefrierpunkts gehalten wird.
Durch den Anstieg der Temperatur lassen sich immer neue Gebiete wirtschaftlich erschließen, andere jedoch werden unbewohnbar. Nicht nur an den Steilhängen Spitzbergens. Kivalina zum Beispiel, ein Ort in Alaska, ist dem Untergang geweiht.

Das Dorf liegt auf einer Landzunge in der Tschuktschensee. Bisher schützte das Eis die rund 400 Einwohner vor den Wellen des Meeres. Doch das bildet sich nun erst viel später. Herbststürme peitschen die offene See, die Brandung prallt mit ungebremster Wucht gegen den Strand. Die Bewohner müssen ihren Heimatort aufgeben, die Evakuierungsstraße ist schon gebaut.

Das ist keineswegs nur ein lokales Drama. Mit mehr als sechs Milliarden Dollar Schäden rechnet Alaska bis 2030, verursacht durch den Klimawandel, vor allem durch das Auftauen des Permafrostbodens, Überflutung und Küstenerosion. In der gesamten Arktis, haben Wissenschaftler vom Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut ermittelt, zieht sich die Küstenlinie inzwischen pro Jahr um durchschnittlich mehr als einen halben Meter zurück.

Das arktische El Dorado hat zwei Gesichter. Das eine ist unheilvoll, das andere hoffnungsfroh. Für die Menschen in Kivalina ist der eisfreie Ozean, von dem Generationen von Seefahrern und Glücksrittern einst träumten, zu einem Albtraum geworden.

Die Menschheit geht daran, die Arktis neu zu gestalten. In den polaren Gefilden Asiens, Europas und Nordamerikas schreitet die Erschließung voran. Die weißen Flächen im Norden unseres Planeten schrumpfen dahin.
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III. Kapitel: Machtpoker im Norden

Groß ist die Furcht vor militärischer Konfrontation um Hoheitsrechte und Ressourcen. Doch ist sie auch berechtigt? Die gute Nachricht: Bisher scheint der neue Goldrausch eher die Kooperation zu fördern
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Motorenlärm zerreißt die Stille, die über der Weite der kanadischen Arktis liegt. Ein Schwarm von Schneemobilen rast heran, gespenstisch anmutende Gestalten hocken hinter den Lenkern, eingehüllt in Armeejacken, die Gesichter mit Masken vermummt. Die Temperatur beträgt minus 35 Grad, der Fahrtwind senkt sie auf gefühlte 55 Grad unter null. Unbedeckte Haut würde binnen Minuten gefrieren.

Jedes der zwölf Schneemobile zieht einen Transportschlitten aus Holz, wie ihn die Inuit verwenden, einen qamutik, hoch beladen mit technischen Gerätschaften. Die Kolonne dröhnt über den Schnee vor der Victoria-Insel, um Taucher mit Pumpen, Kompressoren, Generatoren zu versorgen - im Rahmen der „Operation Nunalivut 2018“, eines Manövers, mit dem die kanadische Armee ihre Einsatzfähigkeit in der winterlichen Arktis trainiert.

Der Name der Militäroperation ist dem Gebiet entlehnt, in dem sie stattfindet: Nunavut, ein Territorium im äußersten Norden Kanadas, vor 20 Jahren gegründet als Autonomiegebiet für die indigenen Völker. Es ist mehr als fünfeinhalbmal so groß wie Deutschland, wird aber von nur etwa 39.000 Menschen bewohnt. Nunavut umfasst den größten Teil des kanadisch-arktischen Archipels, der aus über 30.000 Eilanden besteht, darunter die Baffin-, die Victoria- und die Ellesmere-Insel: drei der zehn größten Inseln der Welt.

Es ist ein Gebiet, das militärisch kaum zu kontrollieren ist. Warum auch? Wer sollte sich für dieses gigantische Nichts interessieren? Seit dem Ende des Kalten Krieges galt es als strategisch weithin bedeutungslos.

Doch jetzt, da das Nordpolarmeer ein Ozean wird mit offenen Wassern, da Routen und Rohstoffe zugänglich werden, verschieben sich auch die geopolitischen Interessen.
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Aufmarschgebiet Arktis: In Kotzebue hat die Küstenwache der USA einen Stützpunkt eingerichtet. Jenseits der Tschuktschensee liegt Russland
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August 2007, Kanada ist schockiert: Ein U-Boot setzt in 4261 Meter Tiefe eine Flagge am Meeresgrund ab - die Flagge Russlands. Genau am Nordpol. Die Botschaft ist deutlich: Wir sind hier.

In Kanada verstärkte das die Angst, die Nation könne ihre Souveränität über den hohen Norden verlieren. Das Land modernisiert seine Streitkräfte, entsendet vermehrt Patrouillen auf das Eis, bestehend aus regulären Truppen und Canadian Rangers. Letztere sind eine arktische Miliz, die sich vor allem aus Angehörigen der Inuit zusammensetzt und die der Armee als Auge und Ohr dient. Auch den Trupp mit den Motorschlitten führt ein Inuit an.
Eine kanadische Flagge flattert über den Zelten auf dem Eis vor der Küste der Victoria-Insel: Die Schneemobil-Karawane ist am Ziel angelangt. 30 Männer trainieren hier, und eine Frau: Valerie LeClair, 33, Marinetaucherin. Durch das Einstiegsloch gleitet sie unter das Eis, das sich über ihr erstreckt wie eine Decke aus Opal.

Die Kamera der Taucherin überträgt Bilder aus dem blauen Universum auf den Kontrollmonitor. LeClairs Dialog mit dem „Su“, dem Supervisor, klingt fern und fremd wie zwischen Astronautin und Bodenstation. Zwei Assistenten rollen die Sicherungsleine und das Datenübertragungskabel ab; Funktechnik funktioniert schlecht unter Wasser.

Offiziell trainiert der Trupp Rettungs- und Bergungsaktionen. Der Schiffsverkehr nimmt stetig zu, auch immer mehr Kreuzfahrtschiffe bereisen polare Gewässer, neuerdings sogar Giganten mit bis zu 7000 Menschen an Bord. Auch der Luftverkehr wird dichter. Die Arktis ist nicht mehr einsam, und die Wahrscheinlichkeit einer Havarie oder eines Absturzes steigt.

Doch da ist noch etwas anderes. Etwas, über das weder die Soldatin am Eisloch spricht, noch ihre Vorgesetzten Auskünfte geben. Genau hier, vor der Victoria-Insel, verläuft die Nordwestpassage - eine künftig auch strategisch wichtige Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik Und so geht es wohl auch darum, zu üben, wie sich Unterwasser-Erkennungssysteme installieren und warten lassen, die fremde Schiffe oder U-Boote aufspüren können.
Kanada hat die Passage zu einem internen Gewässer erklärt. Was andere Staaten, allen voran die USA, nicht akzeptieren. Die Passage sei eine internationale Wasserstraße, frei nutzbar für alle, argumentiert auch die EU. Kanada hält dagegen: Genau dies sei nie der Fall gewesen - wegen der Eisbedeckung.

Jetzt, da der Klimawandel die Passage öffnet, stehen plötzlich ganz neue Fragen auf der politischen Tagesordnung. Und die Antworten?
Fauchende Raketenwerfer, donnernde Haubitzen, knatternde Maschinengewehre - in Norwegen ließ die Nato im vergangenen Herbst 50.000 Soldaten aufmarschieren, mit 10.000 Fahrzeugen, 250 Flugzeugen und 65 Schiffen probte sie im Großmanöver „Trident Juncture 2018“ den Krieg im Norden. Auch, weil Russland vermehrt Schiffe in der Arktis kreuzen und Flugzeuge an Norwegens Küsten und an den Grenzen Kanadas patrouillieren lässt. Russland stationiert neue Arktisbrigaden auf der Halbinsel Kola und renoviert alte Startbahnen, ließ bis 2017 auf Franz-Josef-Land die Militärbasis Nagurskaja erneuern und erweitern. Die USA verstärken derweil die militärische Zusammenarbeit mit Norwegen. Ein Echo des Kalten Krieges hallt durch die Arktis.
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Kadetten der Marineschule Pawel Nachimow in Murmansk marschieren unter einem Plakat des russischen Präsidenten Putin auf. Für Russland hat die Arktis größte Bedeutung. Als Wirtschaftsraum, der schon jetzt relativ hoch entwickelt ist. Und strategisch, als Zugang zum Atlantik
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Und es gibt einen neuen Mitspieler: China, das im vergangenen Jahr seinen zweiten „Schneedrachen“-Eisbrecher in Dienst stellte, will in der Arktis an Einfluss gewinnen. Ein möglicher Zugang wäre Grönland, das nach vollständiger Unabhängigkeit von Dänemark strebt. Die grönländische Regierung wirbt dafür, Unterstützung aus China anzunehmen, damit sich die Insel ganz von Kopenhagen lösen kann. Beijing steht bereit.

Das Gespenst einer Konfrontation wird vielfach beschworen. Die meisten Konfliktforscher aber sehen eher einen Geist der Kooperation am Werk. Die Arktis sei auch „ein Beispiel für erfolgreiche internationale Zusammenarbeit“, sagt Christoph Humrich vom Institut für Internationale Beziehungen an der Universität Groningen.

Drohgebärden und geschmeidige Diplomatie? In den Weiten der wärmer werdenden Arktis findet beides Platz. „Für das heimische Publikum inszenieren die Arktis-Anrainer eine Show of Force, in der sie ihre Macht und ihren Statusanspruch signalisieren“, sagt Politologe Humrich. Wie im Konflikt um die Hans-Insel, einen 1,25 Kilometer kleinen Felsbrocken im Kennedy-Kanal.

Eigentlich ist die Insel ohne Bedeutung - wenn da nicht nationale Empfindlichkeiten wären. Dänemark will sich nicht dem Verdacht aussetzen, die Interessen seines Hoheitsgebiets zu vernachlässigen. Und die kanadische Regierung will sich nicht vorwerfen lassen, den Norden zu verschenken.
Wenn eine Expedition aus einer der beiden Nationen das abgelegene Eiland erreicht, zieht sie die eigene Flagge auf und entfernt die der anderen. Für den Gegner wird dann eine Flasche Schnaps hinterlegt. Angeblich lassen die Kanadier Whisky da, die Dänen Aquavit.
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Norwegens Küstenwache patrouilliert im Isfjord, Spitzbergen. Der Status der Gewässer dort ist umstritten, Russland strebt nach mehr Einfluss, das Nato-Land Norwegen weist die Ansprüche zurück – bisher mit diplomatischen Mitteln
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Hinter den Kulissen, so Humrich, dominiere eben ein pragmatisches Miteinander. Der Streit zwischen Norwegen und Russland um die Aufteilung der Wirtschaftszonen in der rohstoffreichen Barentssee zum Beispiel galt lange Zeit als brandgefährlich. Doch verblüffend lautlos einigten sich die Kontrahenten: Das strittige Seegebiet wurde einfach in der Mitte aufgeteilt.

Die Aussicht, in der Barentssee Bodenschätze fördern zu können, führte zu einer schnellen Einigung. Streit hätte milliardenteure Großinvestitionen blockiert. Der Hunger auf Ressourcen muss Konflikte nicht anheizen, er kann auch zu deren Lösung beitragen.

90 Prozent der unentdeckten Rohstoffe, so Humrich, lägen ohnehin in unumstrittenen Gebieten. Und beim Rest handele es sich überwiegend um Vorkommen, die mit keinem vertretbaren Aufwand zu fördern wären.

Eines der kritischen Gebiete ist der Lomonossow-Rücken, eine 1800 Kilometer lange unterseeische Erhebung, die sich von den Neusibirischen Inseln über den Nordpol hin zur kanadischen Ellesmere-Insel und zur grönländischen Küste zieht. Sowohl Russland als auch Kanada und Dänemark (für Grönland) sehen in dem Rücken eine Erweiterung ihres Kontinentalsockels.

Nach dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen können Staaten den Meeresboden entlang solcher Gebiete beanspruchen, falls diese geologisch direkt mit ihrem Territorium verbunden sind. Doch das muss wissenschaftlich erwiesen sein.

„Die Arktis ist kein rechtsfreier Raum, kein wilder Norden, in dem man willkürlich seine Claims abstecken kann“, so Christoph Humrich. „Wenn es um den Festlandsockel geht, sind keine Fahnen am Meeresboden entscheidend, dann gelten Wissenschaft und internationales Recht.“

Was auch Russland akzeptiert, das seine Unterlagen bei der zuständigen Kommission der Vereinten Nationen eingereicht hat, genau wie Dänemark. Kanada forscht noch.

In Cambridge Bay feiern Einwohner und Soldaten das Ende der Operation Nunalivut. Im Gemeindesaal des Ortes ertönt der kehlige Gesang der Inuit. Ein Major betont die Verbundenheit der Streitkräfte mit den Menschen vor Ort, die Taucher zeigen Kindern ihre Hightech-Ausrüstung. Die Armee gibt einen aus: Fruchtsaft, Kekse, Süßigkeiten und warmes Essen für alle.

Die Menschen sind stolz auf ihre neu gewonnene Bedeutung. Ihre Siedlungen gelten nicht länger als Orte ohne Zukunft im eisigen Nirgendwo. Sie sind jetzt Vorposten an einem neuen Ozean.
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IV. Kapitel: Was bedeutet das für uns?

Ist extremes Wetter in Mitteleuropa schon eine Folge des Klimawandels in der Arktis? Fragen an die Meteorologin Daniela Jacob, die am Sonderbericht des Weltklimarats zur Erderwärmung mitgearbeitet hat. Im Oktober 2018 wurde er von 195 Staaten angenommen
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GEO: Nirgendwo auf dem Planeten verändert sich das Klima so stark wie in der Arktis. Was bedeutet das für uns?

Daniela Jacob: Durch die unterschiedlich starke Erwärmung in den Tropen und der Arktis verringert sich der Temperaturunterschied zwischen Nordpol und Äquator. Infolgedessen verliert der Jetstream, jener mächtige Höhenstrom, der an der Grenze zwischen kalter und warmer Luft um den Planeten weht, an Kraft. Wenn sich der Jetstream aber verlangsamt, bilden sich Ausbuchtungen in diesem Starkwindband, es franst gewissermaßen aus, mäandert in Wellen nach Norden und Süden. Dadurch kann sehr warme Luft weit nach Norden vordringen und sich dort lange stabil halten.

GEO: Ist die Dürre des vergangenen Sommers schon eine Folge des Klimawandels in der Arktis?

Daniela Jacob: Ich wäre vorsichtig mit einer solchen Aussage. Das war schon eine sehr ungewöhnliche Wetterlage, gewiss, aber sie war eben nicht einzigartig. Ob sie so eingetreten wäre ohne den Klimawandel? Schwer zu sagen. Was wir allerdings beobachten: Von einer sommerlichen Hitzewelle bis zur nächsten vergehen immer weniger Jahre. Und seit dem Jahr 2010, als in Russland die Wälder brannten, sehen wir zunehmend stabile Hitzeperioden, die sich über Wochen und Monate halten.

GEO: Wie passt das extrem frostige Wetter, das im vergangenen Winter Nordamerika heimsuchte, in dieses Bild?

Daniela Jacob: Es beruht möglicherweise auf genau dem gleichen Effekt: Durch die Ausbuchtungen im Jetstream kann nicht nur vermehrt heiße Luft nach Norden gelangen, sondern umgekehrt auch kalte Luft aus der Arktis nach Süden.

GEO: Und worauf müssen wir uns in Zukunft einstellen?

Daniela Jacob: Herbst und Winter werden nasser, die Sommer hingegen trockener. Wann und wo extreme Ereignisse auftreten werden, lässt sich nicht genau vorhersagen, aber aufgrund des Klimawandels wird ihr Auftreten wahrscheinlicher. Ein Sommer kann durchaus wieder grau und vernieselt sein, aber der Trend ist eindeutig: mehr Hitze, mehr Starkregen, mehr Dürre. Die extremen Wettersituationen nehmen weltweit zu.

GEO: Und was können wir tun?

Daniela Jacob: Zum einen müssen wir lernen, mit diesen neuen Bedingungen umzugehen. Wir müssen uns auf den Klimawandel einstellen. Deswegen ist unser Institut vor zehn Jahren ja gegründet worden: Wir wollen mit Städten, Unternehmen, Ingenieurbüros Strategien für eine Anpassung an den Klimawandel entwerfen.
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Das schwindende Eis öffnet den hohen Norden für den Tourismus. Schon heute ankern vor Spitzbergen Kreuzfahrtschiffe mit mehr als 2000 Passagieren. Der arktische Klimawandel macht auch das Wetter in unseren Breiten extremer
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GEO: Das klingt so, als hätten Sie vor dem Klimawandel kapituliert.

Daniela Jacob: Es war unter Klimaforschern in der Tat lange Zeit verpönt, über solche Anpassungen nachzudenken, geschweige denn sie öffentlich zu propagieren. Das weckte sofort Befürchtungen, die Bekämpfung der Erderwärmung würde vernachlässigt. Aber so ist es ganz und gar nicht. Selbstverständlich müssen wir den Ausstoß von Treibhausgasen wie Kohlendioxid unbedingt weiter senken. Wir sollten jedoch auch intelligente Lösungen für die Probleme finden, die infolge des Klimawandels unvermeidlich auf uns zukommen.

GEO: Woran denken Sie zum Beispiel?

Daniela Jacob: Eine wichtige Frage für Stadt- und Regionalplaner ist: Wie verändern sich die Niederschläge? Für Norddeutschland lässt sich sagen, dass diese zwar im Jahresmittel gleich bleiben, aber es regnet viel mehr bei einzelnen Gewittern. Hier in Hamburg zum Beispiel sind die Abwassersysteme und Siele teilweise seit hundert Jahren in Betrieb, sie werden die zu erwartenden Sturzfluten auf Dauer kaum bewältigen. Überflutungsflächen, Auffang- und Rückhaltebecken sind nötig, auch als Reservoirs für sommerliche Dürreperioden. Kommunen könnten Flussauen renaturieren, um Fluten von den Siedlungen fernzuhalten. Und Landwirte könnten vermehrt Schatten spendende Grünstreifen anlegen, damit die Böden weniger stark austrocknen.

GEO: Wie müsste eine globale Strategie gegen den Klimawandel aussehen?

Daniela Jacob: Das Ziel ist, die Erwärmung der Erde auf im Mittel 1,5 Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen. Hierfür müssen die Kohlendioxidemissionen bis 2030 um etwa 45 Prozent sinken, im Verhältnis zu 2010, und wir müssen bis etwa 2050 „netto null“ erreichen. Das heißt: Es muss auch Kohlendioxid aus der Atmosphäre entzogen werden, etwa durch Aufforstungen.

GEO: Sollten wir beim Bemühen, das bereits in der Atmosphäre befindliche Kohlendioxid zu binden, auch auf technische Maßnahmen setzen?

Daniela Jacob: Es ist in jedem Fall viel effektiver, von vornherein weniger zu emittieren, als später zu versuchen, den Prozess wieder umzukehren. Deshalb wäre es absolut falsch, jetzt zu sagen: Wir entlassen einfach weiter Kohlendioxid in die Atmosphäre und holen es dann irgendwann mit technischen Mitteln wieder heraus. Das wird nicht klappen. Wir müssen die Techniken allerdings trotzdem weiterentwickeln und erproben, um sie einsetzen zu können - falls dies irgendwann doch nötig sein sollte.

GEO: Schaffen wir es, den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu begrenzen?

Daniela Jacob: Im Moment sind wir leider weit davon entfernt, die Zielvorgaben einzuhalten. Wenn wir so weitermachen wie bisher, werden wir am Ende des Jahrhunderts weit jenseits des Temperaturanstiegs um 1,5 Grad enden, vermutlich bei einer globalen Erwärmung um die vier Grad Celsius.
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In reißenden Strömen schießt das Schmelzwasser auf Grönland Richtung Meer. Mit entfesselten Naturgewalten werden wir auch in Mitteleuropa rechnen müssen, wenn sich der Temperaturgegensatz zwischen Nordpol und gemäßigten Breiten weiter abschwächt
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GEO: Sollten wir dann nicht realistisch sein und uns eher auf zwei Grad als Grenze einigen?

Daniela Jacob: Es geht nicht darum, was leichter erreichbar ist, sondern was notwendig ist. Ich glaube: Den Menschen, auch uns Forschern, war bisher nicht bewusst, dass die Risiken einer Erhöhung um 1,5 gegenüber einer um zwei Grad sich tatsächlich deutlich unterscheiden. Zwei Grad sind definitiv zu viel!

GEO: Aber alles läuft darauf hinaus, dass wir das Ziel verfehlen.

Daniela Jacob: Ich kann diesen Pessimismus, diese Schwarzmalerei nicht mehr ertragen. Die globale Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, das ist durchaus machbar. Wir haben die Möglichkeiten dazu. Und ich glaube, wir kriegen das hin.

GEO: Was macht Sie so optimistisch?

Daniela Jacob: Was ich bei der Arbeit für den Bericht des Weltklimarats erlebt habe, lässt mich zuversichtlich sein. Die Welt hat die Herausforderung erkannt, ich habe gesehen, dass viele Länder mit beeindruckender Energie dieses Menschheitsprojekt vorantreiben - übrigens, bisweilen abseits offizieller Regierungspolitik, durchaus auch Länder wie die USA oder Saudi-Arabien. Deutschland zählt derzeit leider nicht zu den Vorreitern.

GEO: Woran mangelt es in Deutschland?

Daniela Jacob: Jedenfalls nicht an guten Ideen - davon gibt es viele. Doch die kleinen, erfinderischen Einfälle dringen oft nicht durch, bleiben hängen im Gestrüpp von Normen, Gesetzen, Regularien. Und es fehlt auch am Willen, drastische Emissionsreduktionen in allen Bereichen durchzusetzen: durch den Ausstieg aus Kohle und Gas, durch neue Vorgaben in der Industrieproduktion, in der Landwirtschaft und im Straßenverkehr. Wir sollten beispielsweise das Elektroauto überspringen und schnell zum Wasserstoffantrieb kommen.

GEO: Das Elektroauto gilt doch eigentlich als Teil der Lösung.

Daniela Jacob: Das Elektroauto mag für einige Nutzungen, zum Beispiel städtische Lieferdienste, gut geeignet sein und ist dann kein Problem, wenn es mit Strom aus erneuerbaren Energien gefertigt und betrieben wird. Ist das nicht der Fall, dann entstehen ja weiterhin Emissionen, nur an anderer Stelle; eben dort, wo wir mit Gas und Kohle Strom erzeugen. Außerdem verbraucht die Gewinnung der Rohstoffe für die Batterien und deren Herstellung viel Energie, und das erzeugt wiederum viel Kohlendioxid.
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Gefangen in der Todesspirale

Die »arktische Todesspirale« veranschaulicht, wie stark das Volumen des Meereises in den vergangenen Jahrzehnten zurückgegangen ist. Besonders aufschlussreich fällt der Vergleich der jeweiligen Extremmonate aus: März/April (blau), wenn am Ende des Winters die Eismasse am größten ist, und September (rot), wenn sie am Ende des Sommers am geringsten ist. Deutlich wird, dass der Schwund mit Macht um das Jahr 2000 einsetzte.

Quelle: PIOMAS Ice Volume Data, PSC 2019

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GEO: Die Furcht ist groß, dass der Umbau von Industrie und Landwirtschaft viele Arbeitsplätze kostet.

Daniela Jacob: Dies ist auch eine große Chance, die ohnehin fälligen Transformationen anzugehen und in neue Lösungen zu investieren. Der Umbau im Sinne des Klimaschutzes schafft mehr Arbeitsplätze, als er vernichtet. Und er lässt sich eins zu eins mit nachhaltiger Entwicklung zusammenbringen.

GEO: Worauf müssen wir verzichten?

Daniela Jacob: Transformation im Sinne des Klimaschutzes bedeutet nicht zwangsläufig Verzicht. Beim Einkauf sollten wir auf regionale Produkte achten, wir sollten öfter das Fahrrad benutzen, uns vom eigenen Auto befreien, auf Car Sharing setzen, mehr von zu Hause aus arbeiten - das kann auch Gewinn an Lebensqualität sein. Wir müssen die Strukturen in der Arbeitswelt überdenken und mehr innovative Technik einfordern. Warum für ein dreistündiges Meeting nach Genf fliegen, wenn es doch die Möglichkeit der Videokonferenz gibt?

GEO: Wie halten Sie es mit dem Fliegen?

Daniela Jacob: Wer in den Urlaub fliegen will, soll das von mir aus gerne tun. Ich persönlich versuche Flugreisen zu vermeiden, bin in den letzten fast 20 Jahren auch nur zweimal geflogen, dienstlich. In Europa mache ich alles mit der Bahn. Ich fliege nicht zur Konferenz am Amsterdamer Flughafen, auch wenn die Anreise mit der Bahn sechs Stunden dauert. Übrigens: Es lässt sich auch viel besser arbeiten in der Bahn.

GEO: Zurück zur Arktis: Was wird dort passieren, langfristig?

Daniela Jacob: Alle ernst zu nehmenden Wissenschaftler sind sich einig, dass die Arktis in den nächsten Jahrzehnten im Sommer wohl weitgehend eisfrei werden wird. Doch das Abtauen des arktischen Eises ist kein irreversibler Prozess. Selbst wenn das Eis für ein paar Jahre oder gar Jahrzehnte verschwunden wäre, würde es sich auch wieder bilden, sobald es kälter wird.

Daniela Jacob ist Leiterin des Climate Service Center Germany in Hamburg, das zum Helmholtz-Zentrum für Material- und Küstenforschung gehört. Ihr Institut mit mehr als 60 Mitarbeitern versteht sich als Ideenschmiede und berät Kommunen und Unternehmen im Klimawandel.
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Credits

Text
Fred Langer (Die Schilderungen vom Einsatz der kanadischen Spezialeinheit hat Nicolas Ancellin beigetragen)

Foto und Video
Kadir van Lohuizen & Yuri Kozyrev (Sie wurden unterstützt von der Fondation Carmignac. Die Stiftung vergibt alljährlich den Prix Carmignac, der es Reportern ermöglicht, die ökologischen, politischen und sozialen Probleme einer Region eingehend zu recherchieren und umfassend zu dokumentieren.)

Multimedia-Umsetzung
Jan Henne (unterstützt von Malte Joost und Rainer Droste)

Bildredaktion
Lars Lindemann

Videoredaktion
Malte Joost

Fotonachweis
Kadir van Lohuizen/Noor for Fondation Carmignac: Prolog (2, 3, 5, 6); I. Kapitel (1, 5, 6, 7, 9); II. Kapitel (1); III. Kapitel (1, 2, 8); IV. Kapitel (1, 3, 5)

Yuri Kozyrev/Noor for Fondation Carmignac: Prolog (4); II. Kapitel (2, 4, 6, 7, 9, 11, 13); III. Kapitel (5, 6)

Reto Stöckli, NASA Earth Observatory: Prolog (7)

National Snow and Ice Data Center: I. Kapitel (3)

Mario Mensch: I. Kapitel (13); IV. Kapitel (7)





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